Aachen, 30. VI. 1900.

Sehr verehrter Herr College und Landsmann!

Ihr interessantes und nützliches Buch über Hydrodynamik, das ich mir von Ihrem Vetter geliehen habe, konnte ich zwar lange nicht so gründlich lesen, wie ich es gewünscht hätte - die technische Mechanik sitzt mir zu sehr auf den Fersen -, einige Bemerkungen, die sich fast nur auf Vervollständigung der Litteraturangaben beziehen, will ich mir aber doch erlauben Ihnen mitzuteilen; wenn diese kein Interesse für Sie haben, so thun Sie den Brief bitte in den Papierkorb; im anderen Falle benutzen Sie sie vielleicht bei einer Neuauflage, die ich Ihnen hiermit baldigst wünsche.

1). Cap. VII, § 6. O. Reynolds hat nicht nur prächtige Experimente zur Hydraulik gemacht, die Sie citiren, sondern auch eine grossartige Theorie, Phil. Trans. London R. S. Vol. 186 I (1895). (R. geht wahrscheinlich viel tiefer wie Boussinesq, den ich noch nicht gelesen habe. An R. knüpft an H.A. Lorentz, Amst. Academie 1897, Verslagen Bd. 6.) Im Princip ist dort alles erklärt, speciell auch das hochinteressante experimentelle Kriterium von Reynolds, wann die Bewegung geradlinig, wann sie in Wirbeln und Blasen erfolgt. Im Einzelnen ist freilich noch viel zu thun. Ich halte diese Arbeit von R. für die grösste That auf dem Gebiete der Hydrodynamik seit der Aufstellung der Differentialgleichungen.

Das R'sche Kriterium scheinen Sie mir nicht ganz richtig anzugeben: (pag 295) Die "kritische" Geschwindigkeit ist um so kleiner, je weiter die Röhren im Vergleich zu dem Verhältnis Dichte/Viscosität sind. In Zeichen \begin{displaymath} U = Zahlenfactor \cdot \frac{d k^2}{s} \end{displaymath} d = Durchmeßer der Röhre, $k^2$ = Viscosität, s = Dichte.

Ich habe diese Dinge für mein Colleg studirt u. hoffe darüber weiterarbeiten zu können.

Damit zusammen hängt Hele Shaw, Institution of Naval Architects t. 39 und 40 (1897 und 1898). Er zeigt, dass die stärker reibenden Flüssigkeiten (Öl) viel beßer den theoretischen Gesetzen der reibungslosen Hydrod. genügen, wie die weniger reibenden (Waßer). Der Grund ist der, dass bei ersteren die kritische Geschw. höher liegt. Photographien einer in Flüssigkeit bewegten Platte u. Kugel mit den entstehenden Wirbeln und Strömungslinien.

2) p. 43. Die Ringkoordinaten hat wohl zuerst Lord Kelvin, in den Arbeiten über elektr. Bilder (Liouvilles Journal) aus den 40-er Jahren.

3). p. 53. Wenn ich mich recht erinnere, leitet Lagrange die hydrod. Gleichungen für compressible Flüssigkeiten mechanisch aus dem d'Alembert'schen Princip ab. Reiff hat kürzlich in Wied. Ann. fast genau dasselbe publicirt wie Lagrange.

4) Sollte man nicht die hydr. Gl. einfach so in Worten aussprechen:
Hydrostatik: "Druckgefälle in irgend einer Richtung = Comp. der äusseren Kraft."
Hydrodyn: "Dichte x Beschleunigung eines Flüssigkeitsteilchens in bel. Richtung = Comp. der äusseren Kraft - Druckgefälle."

Die Transformation in beliebige Coordinaten hat dann keine Schwierigkeit und der wesentliche Gedanke tritt beßer hervor. In dieser Form habe ich es gewagt, meinen Aachener Studenten die hydrodynamischen Gl. vorzusetzen. Vor den Formeln in Coordinaten wären sie davongelaufen.

In den nächsten Tagen übersende ich Liste der Encyklopädie-Referenten. Wie Sie sehen werden, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Die Termine zur Fertigstellung sind von der Academie-Commißion gegeben. Ich glaube nicht, dass Ihre Artikel vor Mitte 1902 gebraucht werden. Wenn Sie sie früher schicken, um so beßer.

Für mannigfache Belehrung durch Ihr Buch bestens dankend, Ihr aufrichtig ergebener

A. Sommerfeld.