Aachen 18. II. 04

Lieber Herr College!

Soeben habe ich Ihre sehr interessante Arbeit über die Röntgen-Energie gelesen, wozu ich als Redaktions-Commißion wohl das Recht hatte. Darf ich Ihnen einige Bemerkungen dazu machen? Ich glaube, daß Sie durch deren Berücksichtigung einige kleine Unklarheiten und Unsauberkeiten leicht vermeiden können.

1) Das von Ihnen S. 9 Gemeßene ist wohl eigentlich \begin{equation*} \frac{E_r}{E_k - E_r} \; \textrm{ nicht } \; \frac{E_r}{E_k}, \end{equation*} weil die von den Kathodenstrahlen erzeugte Wärme vermehrt um die Energie der Röntgenstrahlen erst die ganze Kathodenstrahl-Energie ausmacht. Im Übrigen berechtigt natürlich Ihr Ergebnis $9,17 \cdot 10^{-4}$ sofort /2/ sofort dazu, $E_r$ neben $E_k$ zu vernachlässigen. Ich vermisse nur einen Hinweis der implicite gemachten Vernachlässigung.

2) Die Kleinheit von $\frac{E_r}{E_k}$ war mir von dem grössten Intereße. Vielleicht wären Bemerkungen der folgenden Art am Platze: Wenn $E_r = E_k$ wäre, so würde die Arbeit beim Stoppen des Elektrons 0. Keine Wärme würde entwickelt und Impulsbreite wäre $= 2a$ (Elektr.-Durchmeßer). Theoretisch wäre die Energie der Röntgenstrahlen dann durch die mitgeführte Energie des $\beta$-Strahls zu berechnen $ = \frac{m}{2} v^2$, wo m die energetische Maße des Elektrons, die der "transversalen" und "longitudinalen" bei großen Geschwindigkeiten verschieden, bei kleinen aber wesentlich damit identisch wird. Je kleiner $E_r$ gegen $E_k$, um so mehr Erwärmung an /3/ der Antikathode, um so größere Impulsbreite.

3) S. 15 wird ähnlich wie ad 1) von vornherein $J_s$ gegen $J_r$ und $E_s$ gegen $E_r$ vernachlässigt, was durch das Resultat gerechtfertigt wird.

4). S. 19. Beim Übergang von der Abraham'schen zu der Formel in rationellen Einheiten muß $4 \pi$ in den Nenner kommen. Es muß also heissen: \begin{equation*} \frac{e^2 v^3}{12 \pi c^3 \kappa^6 \lambda} \end{equation*} Bei der nächsten Formel ist die 2 irrtümlich, es muß statt 2 heissen 1, wenn gewöhnliche Einheiten, $\frac{1}{4 \pi}$, wenn rationelle gemeint sind. S. 20 muß in der ersten Formel statt $8 \pi$ entweder 2 stehen (gewöhnl. Einheiten) oder $\frac{2}{4 \pi}$ (rationelle). Die folgende Rechnung, die Sie offenbar in gewöhnlichen Einheiten /4/ ausgeführt haben, ist aber richtig. Ich bekomme denselben Zahlenwert $l = 1,23 \cdot 10^{-10}$cm wie Sie.

5). Ich würde die Formel $b = 2 l \frac{c}{v}$ genauer ersetzen durch \begin{equation*} b = l \left(1 + 2 \frac{c}{v}\right) \end{equation*} und ich würde die Ableitung hinzufügen. (Übrigens habe ich seinerzeit die Impulsbreite $\lambda$ genannt, um die Analogie zu der Wellenlänge hervortreten zu laßen, was eigentlich hübscher ist). Die Ableitung lautet doch wohl so: Das [Skizze] Elektr. fängt sich in A zu verzögern an und kommt in B zur Ruhe. In A wird die Front des Impulses ausgesandt, in B die Rückseite. Zur gleichmässigen Verzögerung von v auf 0 wird die Zeit $\frac{2l}{v}$ erfordert. In dieser Zeit pflanzt sich die Front /5/ von A nach C fort, um $c \frac{2 l}{v}$. Daher ist die Impulsbreite $= CB = l (2 \frac{c}{v} + 1)$.

Diese Correktion bewirkt eine Vergrößerung der Impulsbreite im Verhältnis 5:4. Wenn ich für e den Planck'schen Wert $4,7 \cdot 10^{-10}$ (Ann. 9 1902 p. 641) nehme, statt des Thomson'schen $3,4 \cdot 10^{-10}$, so vergrößert sich die Impulsbreite weiter im Verhältnis 4:3

6). Der Zahlenwert für die Geschwindigkeit beträgt $1,48 \cdot 10^{10}$ = ca. $\frac{1}{2} c$. (Ich habe ihn übrigens nicht recht verificiren können, was aber meine Schuld ist; es ist ja eine sehr bekannte Beziehung ($v = \sqrt{2 \frac{e}{m} \cdot \textrm{Spannung}}$??)) Bei $v = \frac{1}{2} c$ ist $\frac{e}{m}$ nicht mehr recht constant, also wären eigentlich /6/ noch ein oder 2 Correktionsglieder der Reihenentwickelung für m zu berücksichtigen.

6). [Sic] S. 21. Ich berechne aus den Beugungsbeobachtungen von Haga und Wind für die Impulsbreite $0,13\mu\mu \; = 1, 3 \cdot 10^{-8}$cm.*

Ihr Wert ist 26mal so klein; wenn Sie aber die obigen Correktionen $\frac{5}{4} \cdot \frac{4}{3}$ acceptiren, wird er nur 16mal so klein. Nun ist zu beachten, daß die Beugungsbeobachtungen die Wirkung der breitesten Impulse vorwiegen laßen. Das Röntgenbündel ist doch wahrscheinlich sehr inhomogen, wie auch das erzeugende Kathodenbündel. Die /7/ kürzeren Impulse geben keinen merklichen Beitrag zum Beugungsbild. Deshalb muß Ihr Wert, der einer mittleren Breite entspricht, unter meinem Werte liegen. Übrigens haben auch Haga u. Wind neben der "Wellenlänge" von der Ordnung $1,3 \cdot 10^{-8}$ bereits weit kleinere berechnet, aus den wiederholten Verbreiterungen am unteren Ende des Spaltes. Ich habe mich damals auf die grösste Impulsbreite beschränkt, habe aber p. 94 auf die mögliche Inhomogenität hingewiesen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie den Schluß Ihrer Arbeit mehr in eine Bestätigung (der Größenordn[un]g nach) von Haga-Wind-Sommerfeld wie in einen Widerspruch ausklingen laßen würden. Ich glaube, daß dies mehr der Natur der Sache entspricht.

/8/ 7). Es scheint mir, daß Sie sich eine besonders interessante Schlußfolgerung entgehen laßen auf die Grösse des Elektronenradius a. Nehmen wir (in gewöhnlichen Einheiten) \begin{gather*} E_r = \frac{e^2 v^3}{3 c^3 \kappa^6 l}
[4pt] E_k = \frac{m}{2} v^2 = \frac{1}{3} \frac{e^2}{a} \left(\frac{v^2}{c^2} + \cdots \right) \end{gather*} (z.B. Oberflächenladung; die nicht hingeschriebenen Glieder kommen erst bei großem v in Betracht) so wird \begin{equation*} \frac{E_r}{E_k} = \frac{v}{c \kappa^6} \frac{a}{l} = \textrm{ rund } \frac{32}{27} \frac{a}{l}, \; \frac{a}{l} =1, 1 \cdot 10^{-3}, \end{equation*} also mit Ihrem l: \begin{equation*} a=1,3 \cdot 10^{-13}, \end{equation*} was recht einleuchtend ist.

Indem ich dies schreibe, sehe ich allerdings ein, daß damit eigentlich nichts Neues gewonnen ist; denn Ihre Bestimmung von l setzt die Kenntnis von e voraus, die schon allein zur /9/ Bestimmung von a genügt. Trotzdem ist vielleicht die Hervorhebung des Verhältnißes a:l von Intereße, weil man hierdurch ein Urteil über die Langsamkeit der Verzögerung gewinnt. Hierdurch wird nachträglich die Berechtigung der Formel für $E_r$ erwiesen. Diese Formel rührt übrigens nach Abraham selbst nicht von Abraham her sondern von Larmor, vgl. Lorentz Encykl. V, p. 187 (dort sehen Sie auch die Berechtigung meiner Bemerkung über rationelle Einheiten. Die Larmor'sche Formel unterscheidet sich von Ihrer allerdings um $\kappa$6 = ca. \frac{1}{2}.)

/10/ Vielleicht schreiben Sie mir eine Karte, ob Sie es vorziehen, meine Bemerkungen, soweit Sie sie zutreffend finden, in der Correktur zu berücksichtigen, oder ob Sie das Ms. noch einmal haben wollen. Im letzteren Falle bitten wir Sie, das Ms. dann direkt an Teubner** zu schicken, um Zeitverlust zu vermeiden. Das Vorstehende habe ich natürlich nicht als "Redakteur" geschrieben, als welcher ich Ihre Arbeit unbesehen gedruckt hätte, sondern nur als "Elektroniker".

Ich habe in letzter Zeit hauptsächlich über die Paschen'schen $\gamma$-Strahlen nachgedacht.

Ihre Arbeit wird als Nr 1 u. Renomirstück der Wüllner-Festschrift gedruckt.

Mit herzl. Gruß
Ihr ergebenster A. Sommerfeld.

*Ztschr. f. Math. u. Phys. 46 (1901) p. 93. Phys. Ztschr. 2 Nr. 4, pag. 59.

**Leipzig, Poststr. 3.