Marienburg 15. IV. 05.
Lieber College!
Auf der Fahrt nach Königsberg noch etwas über Ihre Bestimmung der Impulsbreite.
Ihrem Wunsche gemäß habe ich mir die Energieformel der Röntgenstrahlung genau überlegt u. sogar in einem Specialcolleg "Elektronenth.[eorie]" vorgetragen.
Ich habe dabei die von Ihnen benutzte, von Abraham angegebene Formel \begin{equation*} \frac{2}{3} \frac{e^2 \dot{\mathfrak{q}}^2}{c^3 \kappa^6} \end{equation*} außer für ganz schnelle Beschleunigungen im Wesentlichen bestätigt, finde aber, daß sie etwas anders aufzufaßen ist, als Sie es nach meiner Erinnerung thun.
Bei gleichförmiger Beschleunigung ist $\dot{\mathfrak{q}}$ constant, $\beta = \frac{q}{c}$ variabel, also auch $\kappa^2 = 1 - \beta^2$. Die obige Formel liefert /2/ nun die in der Zeit $dt'$ ausgestrahlte Energie u. es ist die bei der Verzögerung im Ganzen ausgestrahlte Energie \begin{equation*} W = \frac{2}{3} \frac{e^2 \dot{\mathfrak{q}}^2}{c^3} \int \frac{dt'}{\kappa^6} = \frac{2}{3} \frac{e^2 |\dot{\mathfrak{q}}|}{c^3} \int\limits_0^{q_0} \frac{dq}{\left(1 - \frac{q^2}{c^2}\right)^3} \; \; , \end{equation*} wo $q_0$ die anfängliche Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen ist. Hierführ kann ich schreiben: \begin{displaymath} W = \frac{2}{3} \frac{e^2 |\dot{\mathfrak{q}}|}{c^2} \int\limits_{0}^{\beta_0} \frac{d\beta}{\left(1 - \beta^2\right)^3} \end{displaymath} Das Integral lässt sich leicht auswerten und liefert \begin{equation*} \int\limits_{0}^{\beta_0} \frac{d\beta}{\left(1 - \beta^2\right)^3} = \frac{1}{8} \left(\frac{3}{2} \log \frac{1 + \beta_0}{1-\beta_0} + \frac{5\beta_0 - 3 \beta_0^3}{\left(1 - \beta_0^2\right)^2}\right) \end{equation*} somit \begin{equation*} W = \frac{e^2 |\dot{\mathfrak{q}}|}{8c^2} \left(\log \frac{1 + \beta_0}{1 - \beta_0} + \frac{\frac{10}{3} \beta_0 - 2 \beta_0^3}{\left(1 - \beta_0^2\right)^2}\right). \end{equation*} Nun ist, wenn b die Impulsbreite: \begin{equation*} |\dot{\mathfrak{q}}| = \frac{c q_0}{b}, \textrm{ \; daher } \end{equation*} \begin{equation*} W = \frac{e^2 \beta_0}{8b} \left(\log \frac{1 + \beta_0}{1 - \beta_0} + \frac{\frac{10}{3} \beta_0 - 2 \beta_0^3}{\left(1 - \beta_0^2\right)}\right)^3 \end{equation*}
/3/ Ich übersehe nicht, ob sich hieraus eine wesentlich andere Impulsbreite b ergiebt, als Sie gerechnet haben. Ich vermute es aber. Denn Sie haben, wenn ich mich recht besinne, W so gerechnet, als ob dauernd die Geschwindigkeit $q_0$ bestände, während doch q von $q_0$ auf 0 abnimmt. Danach müßten Sie die Ausstrahlung zu groß, also die Impulsbreite zu klein bekommen.
Sollte ich mich irren, so bitte ich im Voraus um Entschuldigung. Wie Sie diese Bemerkungen verwerten können, steht ganz bei Ihnen. Ich werde meine Ableitung, die von der Abraham'schen einigermaßen verschieden ist u. die sich auch für sehr schnelle Bremsungen durchführen lässt, aufschreiben und, wenn Sie sie lesen wollen, /4/ Ihnen zuschicken. Vielleicht schicken Sie mir eine Correktur zu, falls Sie ein überflüssiges Exemplar haben, nach Aachen, wo ich zu Ostern wieder eintreffen werde.
Die Wüllner-Festschrift wird recht hübsch werden. Ich gerire mich darin fast als experimenteller Physiker und Photograph auf elastischem Gebiet.
Haben Sie eigentlich die Abhängigkeit der Röntgenstrahlung von dem Azimuth genauer untersucht? Auch darüber giebt die Rechnung bestimmte Aufschlüße. Freilich wird der Vergleich mit dem Experiment erschwert durch die Inhomogenität der Kathodenstrahlung, die im Experiment zweifellos vorliegt.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr A. Sommerfeld.