München 20. VI. [1908]

Lieber Wien!

Ihr Brief hat mich sehr interessirt, da ich die letzten Tage intensiv über dem Lorentz'schen Vortrage geseßen habe. Auch ich halte ihn nicht für beweisend, u. zw. aus folgendem Grunde: Die Elektronenbewegung wird hier ganz quasistationär angesetzt. Es werden nämlich dem Elektron nur 6 Freiheitsgrade zugebilligt (6 Coordinaten $q_2$) und die Energie wird als quadratische Funktion der $\dot{q}_2$ angesehen. Das ist nach meinen Untersuchungen gewiß /2/ unzulässig. Der Zustand der Translation in einer Richtung z.B. kann nicht durch q und $\dot{q}$ gegeben werden. Vielmehr kommt die Vorgeschichte in einem endlichen Intervall von der Größenordnung \frac{Elektr.-Durchmeßer}{Lichtgeschw.} in Betracht; man muß also, um den Zustand zu definiren, auch $\ddot{q}$, \raisebox{-1.45pt}{$\dddot{q}$}, ... geben. Dieser Freiheitsgrad zählt daher nicht als 1 sondern als $\infty$. Ich verweise namentlich auf die Existenz der freien Elektronenschwingungen, die von Herglotz, mir u. Hertz untersucht sind. Da giebt es ein unendliches Spektrum von freien Schwingungsperioden (Translations-/3/ u. Rotationsperioden). Bei der Energieverteilung müßen diese unendlich vielen Freiheitsgrade genau so gut berücksichtigt werden, wie die Eigenschwingungen des Kastens. Die Möglichkeit des Energiegleichgewichtes scheint mir dadurch gegeben, und es muß für die kleinen $\lambda$ ein Teil der Energie, die Lorentz dem Äther allein giebt, auf die Elektronen übergehen. Qualititativ muß dadurch wohl ein Maximum herauskommen. Die quantitative Ausführung aber ist mir noch unklar. Auch zweifle ich, ob unsere freien Schwingungen (ohne die Kräfte des Atomverbandes) ausreichen und das richtige Strahlungsge/4/setz liefern können. Lorentz betrachtet eigentlich nur das Gleichgewicht zwischen Äther und ungeladenen Atomen. Das ist unerlaubt, da ja erst die Elektronen den Energie-Austausch vermitteln. Bei diesem Energie-Austausch bleibt in den Elektronen ein Teil der umgesetzten Energie aufgespeichert.

Ich schreibe im gleichen Sinne an Lorentz.

Die Revision Ihres Art. werde ich nur noch flüchtig ansehen.

Die Theorie der Gruppengeschw.[indigkeit] habe ich jetzt näher studirt. Es handelt sich dabei immer um ein nahezu homogenes Bündel. Citiren Sie doch bitte noch Gouy, Ann. de chim. et phys. Bd. 16 1889, der das /5/ sehr klar macht. Ein abgebrochener Wellenzug ist niemals nahezu homogen bei endlicher Länge.

In meiner Dispersions-Aufgabe sehe ich jetzt Land, d.h. ich finde es mit meinen Rechnungen vereinbar, daß bei Fizeau und Foucault die Gruppengeschwindigkeit beobachtet wird. Gruppengeschw. ist nichts Anderes als Geschwindigkeit der Fortpflanzung einer //Energie-// Änderung der mittleren Energie bei einer fast homogenen Welle, d.h. bei einer partiellen Schwebung.

Mit der Turbulenz habe ich mich fortgesetzt gequält und fast meine ganze Zeit darauf verwandt, ohne fertig geworden /6/ zu sein. Eine kleine vorläufige Note erscheint in den römischen Verhandlungen.

Mit herzlichem Gruß
Ihr A. Sommerfeld

Lindemann's Fermat'scher Satz ist bereits falsch. Auf seinen letzten Elektronenbrei gedenke ich nicht zu antworten.