München, 23. XI. 06

Lieber Wien!

Ich möchte auf einige Punkte unseres letzten Gespräches zurückkommen, die Sie vielleicht noch interessiren.

Zunächst bin ich über Röntgen sehr glücklich. Er kommt mir wissenschaftlich u. amtlich äusserst freundlich entgegen. Sein Intereße an allen Problemen ist äusserst lebendig. Auch theoretisch ist er viel klarer wie Ebert, der offenbar seine Grenzen nicht genügend kennt. Im Colloquium gab sich Ebert einige Blößen; Röntgen ist leider dafür vorläufig nicht zu haben. Alles in allem bin ich überzeugt, dass ich mit Röntgen glänzend auskommen werde. /2/ In der Akademie hat er neulich eine sehr interessante Rede gehalten, natürlich auch wieder einmal über scheinbare Masse der Elektronen. Daß Kaufmann's Versuche entscheidend gegen das Princip der Relativbewegungen sprächen, glaubt er nicht. So genau wären seine Beobachtungen nicht.

Ich habe jetzt Einstein studirt, der mir sehr imponirt u. werde nächstens im Sohnke-Colloquium darüber vortragen. Ich glaube, Sie sind im Irrtum, wenn Sie annehmen, daß Einsteins Theorie die elektromagn. Masse ausschließt. Vielmehr lässt sich die Trägheitswirkung der Ladung bei Einstein gerade so begründen wie bei Lorentz. Sein $\mu$ im /3/ letzten § kann gut elektromagn. Ursprungs sein. Der Unterschied scheint mir nur der zu sein, daß die Veränderlichkeit des $\mu$ nicht gegen die ponderable Masse spricht. Im Übrigen müßen die Grundlagen der Einstein'sche[n] Theorie noch sehr ausgebaut werden, bevor man damit beliebige Elektronenbewegungen behandeln kann.

Wegen der Abraham'schen Schwingungen eines Ellipsoides können Sie sich völlig beruhigen. Die betr. Diss. von Dr. Fuchs ist grundfalsch. Wenn Sie sich dafür interessiren, so sehen Sie sich §4, die Grenzbedingungen (55) an. Die letzte lautet \begin{equation*} \varepsilon_L\frac{\partial X_L}{\partial z}=\varepsilon_J\frac{\partial X_J}{\partial z}, \end{equation*} sie sollte aber heissen: \begin{equation*} \varepsilon_L\frac{\partial X_L}{\partial z} + 4\pi\lambda X_L=\varepsilon_J\frac{\partial X_J}{\partial z} \end{equation*}

/4/ Dass die Lösung mit der falschen Bedingung (55) nicht verträglich sein kann, ist klar. Die richtige Grenzbedingung dagegen ist überflüssig, da sie bereits in den Maxw. Gl. enthalten ist. Aber noch mehr: die erste Grenzbedingung (55) \begin{equation*} Y_L = Y_J \end{equation*} wird in (59) so behandelt, dass $Y_L = 0 \quad Y_J = 0$ gesetzt wird. Da außerdem auch $X_L = 0, X_J = 0$ auf der Oberfläche gesetzt wird, so ist in der Tat der Widerspruch unvermeidlich. Denn $Y = 0$ und $X = 0$ hat notwendig im ganzen Äußeren und im ganzen Innern zur Folge $Y = 0, X = 0$! Das ist doch schon mehr Gehirnerweichung. Es entgeht auch dem Duo Fuchs-Lindemann daß die Bedingung $Y_J = 0$ nichts anderes als das Senkrecht-Stehen der Kraftlinien bei Abraham bedeutet! Auch sonst ist noch einiges falsch. Abraham wird, wie ich höre, nächstens antworten. Möge er diesmal seine Schnoddrigkeit am rechten Orte anwenden.- Sie brauchen mir hierauf nicht zu antworten.

Mit vielen Grüssen Ihr AS.