München, den 30. V 1910.
Lieber Wien!
Betr. die immaturen "hervorragenden Leistungen" handhaben Baeyer und Göbel die Doctorstatuten so, daß sie eine ordentliche Arbeit, wenn sie von einem immaturen Apotheker kommt, als hervorragende Leistung bezeichnen, um der Form zu genügen, mit stillschweigender Billigung der Fakultät und unter gelegentlichem Protest des Wahrheitsfanatikers Röntgen. Neuerdings ist die Frage nicht in der Fakultät besprochen, auch nichts davon bekannt, dass das Ministerium ein Superarbitrium beansprucht, das uns in jedem Falle nur unerwünscht sein kann. Wie ich die Fakultät kenne, wird sie auch hier gern von Fall zu Fall u. nach dem Grundsatz "quieta non movere" entscheiden. Speciell darüber gesprochen habe ich nur mit Voß, der jede Änderung dieses Zustandes, bei der das Ministerium mitzureden hat, für sehr unvorsichtig bezeichnet. Ostwald spricht von dem Chinesentum der Examina. Es kann ja auch vorkommen, daß man die Bestimmung der hervorragenden Leistung nicht auf einen Apotheker, sondern im strikten Wortsinn anwenden wollte (ich habe selbst jetzt einen jungen Techniker hier, der kein /2/ Matur hat u. sich vielleicht ganz gut macht). Dazu sollte die Möglichkeit offen bleiben. Natürlich ist all dieses nur meine resp. Voßens Meinung. Ich glaube aber, dass sich die Fakultät ähnlich äussern dürfte.
Wenn von Debyes Arbeit, über die ich sehr glücklich bin, vor Semesterschluß 1-2 Bogen gesetzt sein könnten, würde der Form genügt sein. Doch hoffe ich, dass die Habilitation nicht aufgehalten wird, auch wenn Ihnen dies unmöglich ist.
Hopf's Arbeit ist bei Ihnen am 24. XII eingelaufen, wie von Ihnen darauf vermerkt. Den Auszug für die Annalen haben wir im Februar festgestellt. Wahrscheinlich hat Hopf die Druckerei nicht genügend informirt. Er hat es inzwischen getan u. der fragliche Abzug wird Ihnen bald zugehn. Es dauert dann wohl nicht mehr lange bis zum Erscheinen*?
Noch möchte ich Sie wegen der Examensarbeit von Joh. Fischer anfragen (über Beugung in uncorrigirten Systemen), die in Ihrer Commißion ist, trotzdem sie ja eigentlich vor mein Forum gehört. Wenn Sie die Arbeit selbst censiren, ist es gut; dann hat Fischer noch den Vorteil, daß er von seinem mathem. Lehrer Rost geprüft werden kann. Ich möchte aber nicht, dass die Censur an Grätz fällt, der kaum das unvoreingenommene Verständnis dafür haben dürfte. Ich würde also, wenn Sie sie nicht selbst censiren, den Antrag stellen, /3/ Fischer in meine Commißion zu überweisen. Das Thema war nicht leicht, für die Kürze der Zeit auch kaum ganz zu erledigen. F. wird, wie ich hoffe, die Sache zur Dissertation ausbauen; ich werde versuchen, ihm dazu das Lamont-Stipendium zu verschaffen, was wohl möglich ist, da er Baier u. Katholik ist u. trotzdem wissenschaftliche Intereßen hat. Er war Neuling in der mathematischen Physik, als er vor einem Jahr bei mir Optik hörte, hat aber soviel Freude daran gehabt, dass er seine mathematische Arbeit (bei Rost) liegen ließ. Ich möchte gern, dass er als mein erster Staatsexamens-Arbeiter nicht damit hereinfällt, ohne natürlich der Gerechtigkeit ein Bein stellen zu wollen.
Wenn Sie also die F.sche Arbeit nicht übernehmen können, schreiben Sie mir doch gleich.
Ich schreibe jetzt an Relativität II, sehr systematisch-vierdimensional, aber nicht absolut erfreulich.
Born schreibt mir von einem neuen starren Körper von 6 Freiheitsgraden, der aber mir nicht viel besser scheint, wie der alte.
Pfingsten war ich auf dem Hochfellen am Chiemsee in tiefem Schnee.
Hoffentlich ist Frau u. Tochter munter.
Ihr A. Sommerfeld.
*Diese Frage braucht keine Antwort, sondern ist "rhetorisch".