München, den 11. VII 1910.
Lieber Wien!
Anbei Relativität II, mit der Bitte, sie in die Ann. aufzunehmen. Ob sie die grosse darauf verwendete Mühe eigentlich gelohnt hat, ist mir sehr zweifelhaft. Das Mittenwalder Ms. werden Sie nicht mehr darin wiedererkennen. Die geometrische Systematik ist jetzt hyper-minkowskisch.
Für die schnelle Erledigung der Debye'schen Correktur habe ich Ihnen sehr zu danken. Die Habilitation war letzten Samstag: Röntgen hat an Debye Worte gerichtet, die ihn schamrot machen mussten.
Daß die Jenenser Ebert vor Ihrem Vetter beriefen, kann ich nur als geschmacklos bezeichnen.
Was Fischer betrifft, so halte ich sein subjektives Verdienst für sehr groß. Er hörte im Sommer 1909 bei mir sein erstes Colleg über mathem. Physik (Optik) u. machte auch das Seminar sehr emsig mit. Ende des Semesters bat er mich um ein Thema zum Staatsexamen. Ich hörte erst später von Rost, dass er sein mathematisches Thema, in dem eine Kugel gezwungen ist allerlei Gerade zu berühren und so durch den Raum gejagt wird, schon fast fertig hatte. Ich habe damals nur /2/ im Allgemeinen mit ihm über das jetzige Thema sprechen können, da die Debye'sche Arbeit noch nicht vorlag. Er bekam diese in den Ferien u. war nach den Ferien zwei Tage hier, wo er mit Debye u. mir sprach. Wir hatten ihn namentlich davon abzuhalten, sich in speciellen Rechnungen zu verlieren, wie aus einer ebenen Welle an einer Linse eine paraboloidartige Welle wird; die Erweiterung, die Debye in der Correktur am Schluß seiner Arbeit mit Rücksicht auf Fischer eingefügt hat, wonach auch für nichtsphärische Wellen eine strenge Lösung hingeschrieben werden kann, hatte Fischer glaube ich wenn auch nicht vollständig selbst gefunden [so doch] wenigstens etwas Ähnliches. Dann war er noch einmal zu Fastnacht einen Tag hier, weil Hilb ihm Angst gemacht hatte wegen des Verschwindens der ersten Glieder in der Potenzentwickelung nach $\varphi$, die aber nur erwünscht war. Bei dieser Besprechung galt es nur, diese Befürchtung zu zerstreuen. Schriftliches hat er von Debye und von mir nur in allgemeinen Umrissen (fast ohne Formeln) bekommen. Ich fand, dass er sich schnell in dem nicht ganz leichten Gegenstand zurechtgefunden hat. Von seinen speciellen Resultaten und Figuren weiss ich garnichts. Diese sind also selbständig. Ich zweifle nicht, daß sie etwas dürftig ausgefallen sind, schon deshalb weil F. auf 4 Wochen Verlängerung gehofft hatte, die ihm vom Ministerium nicht bewilligt wurden. Das objektive Verdienst wird also wohl gering sein. Sein geradezu stürmisches Interesse an der Sache verdient aber alle Anerkennung. Sie können sich ja im Grunde nur an das objektiv /3/ Vorliegende halten, werden aber die besonderen Umstände (wenig Anleitung wegen Abwesenheit, sehr geringe Vorbildung auf mathem.-physikal. Gebiet) wohl berücksichtigen dürfen. Wenn keine erheblichen Misverständniße bei ihm vorliegen (die ich nicht für ausgeschlossen halte) und wenn wenigstens einige Fälle durch ausreichende Figuren dargestellt sind (z.B. Verhalten längs der Axe oder in der Brennebene) würde ich ihm wohl I geben. Natürlich vorbehaltlich des Colloquiums, das ja dazu da ist, Zweifel bei der Censur zu beseitigen. Doch haben Sie mehr Erfahrung in diesen Angelegenheiten wie ich.
Ich würde mich sehr freuen, wenn F. sich entschliesst, die Arbeit als Dissertation auszuführen. Ich bin überzeugt, dass er in zwei Semestern (soviel wird nötig sein) hier an Ort und Stelle eine sehr gediegene und nützliche Doctorarbeit zu Wege bringen wird. Ich möchte ihm gern dazu das Lamont-Stipendium verschaffen, wie ich schon schrieb; leider aber hat Seeliger einen Candidaten, der F. vorgehen würde. Vielleicht gelingt es später. Was mir an Fischer besonders angenehm auffiel und was mir ein weiteres Arbeiten mit ihm zur Freude /4/ machen würde, ist, dass ich von ihm bei den paar Besprechungen nie das leidige "es geht nicht" gehört habe, das ich sonst von meinen Doctoranden oft zu hören bekomme.
Meine Frau geht den 23ten nach Untergrainau, ich wohl etwas später. Ich komme bald nach Mittenwald.
Beste Grüße!
Ihr A. Sommerfeld.