Aachen 11/6/98
Sehr geehrter Herr College!
Für Ihren freundlichen Brief und das gute Vertrauen, das Sie mir durch Ihr Anerbieten bezeigen sage ich Ihnen meinen besten Dank. Leider bin ich nicht im Stande darauf einzugehen und ich will Ihnen die Gründe, denen ich folgen muß, genau auseinandersetzen.
Ich habe zunächst mit meiner Hydrodynamik noch auf länger zu thun, so daß ich bevor sie fertig ist, keine neue Arbeit übernehmen kann. Dann ist es noch ein sehr persönlicher Grund, der von großem Gewicht ist. Die theoretische Physik liegt in Deutschland so gut wie vollständig brach. Das müßte ja nun eigentlich Veranlassung sein, wieder zu ihrer Belebung beizutragen aber die Sache ist schon soweit /2/ gekommen, daß selbst das Bedürfnis nach theoretischer Physik immer mehr schwindet. Die Gründe dafür liegen erstens darin, daß die Physiker so gut wie ausschließlich das reine Experiment pflegen und für die Theorie kaum Interesse hegen[,] zweitens daran daß die meisten Mathematiker sich den ganz abstrakten Gebieten zugewandt haben, sich um die Anwendungen aber nicht kümmern. Äußerlich zeigt sich das darin, daß reine theoretische Physik nur von zwei Lehrstühlen (Berlin und Göttingen) vorgetragen wird und ein so bedeutender Lehrstuhl wie München ganz eingegangen ist. Die theoretische Physik findet gegenwärtig keine Abnehmer. Später wird das alles wieder anders werden, weil ja sonst die Physik überhaupt zu Grunde gehen würde, aber ich muß der Zeit/3/strömung etwas Rechnung tragen, und mich eingehend mit rein experimentellen Arbeiten beschäftigen solange ich noch für die äußere Stellung zu arbeiten habe. Ich glaube, daß Sie mir hierin ohne weiteres Recht geben werden.
Mein Referat für Düsseldorf ist fertig. Sie erhalten es nächstens gedruckt. Ich glaube, daß es auch für den Mathematiker einiges Interesse hat.
Wie steht es mit Ihrem Referat? Die Mathematiker Vereinigung wollte ja auch etwas dazu beitragen.
Mit den besten Grüßen
Ihr ergebener
W. Wien