Leiden, den 6 October 1900.
Verehrter Herr College,
Nachdem ich verschiedene Arbeiten die mich hier bei meiner Rückkehr
erwarteten, erledigt habe, komme ich dazu Ihre Bemerkung über die
Flüßigkeitsbewegung in einem cylindrischen
Rohr zu beantworten. Als ich meine Abhandlung zur Hand nahm, sah ich sogleich daß Sie vollkommen
Recht haben. Die Gleichung
\begin{equation}
\begin{split}
\varrho \left(\frac{\partial u'}{\partial t} + \bar{u} \frac{\partial
u'}{\partial x} + \bar{v} \frac{\partial u'}{\partial y} + \bar{w}
\frac{\partial u'}{\partial z} + u' \frac{\partial
\bar{u}}{\partial x} + v' \frac{\partial \bar{u}}{\partial y} + w'
\frac{\partial \bar{u}}{\partial z}\right) =
= - \frac{\partial
p'}{\partial x} + \mu \Delta u',
\end{split}
\tag*{(a)}
\end{equation}
welche ich für die "Wirbelbewegung" angab, ist nicht
richtig. Es sind links die Glieder
\begin{equation}
\varrho \left[\frac{\partial ({u'}^2)}{\partial x} + \frac{\partial (u'
v')}{\partial y} + \frac{\partial (u' w')}{\partial z}\right] -
\varrho \left[\frac{\partial (\overline{{u'}^2})}{\partial
x}+\frac{\partial (\overline{u' v'})}{\partial y} + \frac{\partial
(\overline{u' w'})}{\partial z}\right]
\tag*{(b)}
\end{equation}
hinzuzufügen.
Wie ich zu diesem Fehler gekommen bin, weiß ich mich nicht mehr zu erinnern. Vielleicht habe ich $u'$, $v'$, $w'$ als sehr klein betrachtet, was auch erlaubt wäre, wenn man von einer Bewegung mit $u' = v' = w' = 0$, d.h. also von der dem Poiseuille'schen Gesetze entsprechenden Strömung ausgehen wollte, und nun untersuchen wollte, ob kleine Störungen dieses Zustandes anwach/2/sen oder verschwinden werden. Dem widerspricht aber, daß ich in den weiteren Ausführungen oft von endlichen Werten von $u', v', w'$ rede.
Glücklicherweise bleiben meine Folgerungen von dem Fehler unberührt, weil die Glieder (b) fortfallen, wenn man die drei Bewegungsgleichungen mit $u', v', w'$ multipliziert, dann addiert und schließlich über einen Raum, an deßen Grenzen $u', v', w'$ verschwinden, integrirt.
Man erhält nämlich aus der Größe (b) und den beiden analogen auf die
y- und z-Achse bezüglichen Größen den Ausdruck
\begin{equation*}
\begin{split}
A - B, \hspace{10mm}
\textrm{wo \hspace{8mm}} A = \varrho \int \left\{\vphantom{\frac{\partial ({u'}^2)}{\partial x}} \right. u' &\left[\frac{\partial ({u'}^2)}{\partial x} +
\frac{\partial (u' v')}{\partial y} + \frac{\partial (u'
w')}{\partial z}\right] +
+ \; v' &\left[\frac{\partial (u' v')}{\partial x}+\frac{\partial
({v'}^2)}{\partial y}+\frac{\partial (v' w')}{\partial z}\right] +
+ \; w' &\left[\frac{\partial (u' w')}{\partial x} + \frac{\partial
(v' w')}{\partial y} + \frac{\partial ({w'}^2)}{\partial z}
\right]\left.\vphantom{\frac{\partial ({w'}^2)}{\partial
z}}\right\} d \tau
[12pt]
\textrm{und \hspace{8mm}} B = \varrho \int \left\{\vphantom{\frac{\partial
(\overline{{u'}^2})}{\partial x}}\right. u' &\left[\frac{\partial
(\overline{{u'}^2})}{\partial x} + \frac{\partial (\overline{u'
v'})}{\partial y} + \frac{\partial (\overline{u' w'})}{\partial
z}\right] +
+ \; v' &\left[\frac{\partial (\overline{u' v'})}{\partial x} + \frac{\partial
(\overline{{v'}^2})}{\partial y}+\frac{\partial (\overline{v'
w'})}{\partial z}\right] +
+ \; w' &\left[\frac{\partial (\overline{u' w'})}{\partial x} + \frac{\partial
(\overline{v' w'})}{\partial y} + \frac{\partial
(\overline{{w'}^2})}{\partial z}\right]\left.\vphantom{\frac{\partial
(\overline{{w'}^2})}{\partial z}}\right\} d \tau.
\end{split}
\end{equation*}
Vermöge der Relation \begin{eqnarray*}
\frac{\partial u'}{\partial x}+\frac{\partial
v'}{\partial y}+\frac{\partial w'}{\partial z}=0
\end{eqnarray*}
ist nun zunächst A zu ersetzen durch /3/
\begin{equation*}
\begin{split}
A = \varrho \int \left\{\vphantom{\frac{\partial u'}{\partial x}}\right. u' &\left[u'
\frac{\partial u'}{\partial x} + v' \frac{\partial u'}{\partial
y}
+w' \frac{\partial u'}{\partial z}\right] +
+ v' &\left[u' \frac{\partial
v'}{\partial x} + v' \frac{\partial v'}{\partial y} + w'
\frac{\partial v'}{\partial z}\right] +
+ w' &\left[u'
\frac{\partial w'}{\partial x} + v' \frac{\partial w'}{\partial
y} + w'
\frac{\partial w'}{\partial z}\right] \left.\vphantom{\frac{\partial w'}{\partial z}}\right\}d\tau =
= \hphantom{=\;} \frac{1}{2} \varrho \int &\left\{ u' \frac{\partial
({u'}^2)}{\partial x} + v' \frac{\partial ({u'}^2)}{\partial y} +
w' \frac{\partial ({u'}^2)}{\partial z} + \right.
& + u' \frac{\partial
({v'}^2)}{\partial x} + v' \frac{\partial ({v'}^2)}{\partial y} + w' \frac{\partial ({v'}^2)}{\partial z} +
& + u' \left. \frac{\partial
({w'}^2)}{\partial x} + v' \frac{\partial ({w'}^2)}{\partial
y} + w' \frac{\partial ({w'}^2)}{\partial
z}\right\} d \tau=
= \hphantom{=\;} \frac{1}{2} \varrho \int &\left( u' \frac{\partial
k}{\partial x} + v' \frac{\partial k}{\partial y} + w'
\frac{\partial k}{\partial z}\right)d\tau,
\end{split}
\end{equation*}
wenn man
\begin{equation*}
{u'}^2 + {v'}^2 + {w'}^2 = k
\end{equation*}
setzt. Mittels partieller Integration wird dann schließlich
\begin{equation*}
A = - \frac{1}{2} \varrho \int k \left(\frac{\partial u'}{\partial x} +
\frac{\partial v'}{\partial y} + \frac{\partial w'}{\partial
z}\right) d \tau = 0.
\end{equation*}
Was die Größe B betrifft, so ist Folgendes zu bemerken. Wenn man
über einen größeren Raum integrirt (oder über eine längere Röhre), ich
meine über einen Raum deßen Dimensionen viel größer sind als die
Dimensionen der Wirbel, so darf man die zu integrirende Funktion
\begin{equation}
u' \left[ \frac{\partial (\overline{{u'}^2})}{\partial x}+\frac{\partial
(\overline{u' v'})}{\partial y} + \frac{\partial (\overline{u'
w'})}{\partial z}\right] + \textrm{ u.s.w.} \quad \dots\dots
\tag*{(c)}
\end{equation}
durch ihren räumlichen Mittelwerth ersetzen. Unter "räumlichem"
Mittelwert verstehe ich den Mittelwerth für einen kleinen Raum der
eben groß genug ist um in $\bar{u}, \bar{v}, \bar{w}$ die
Geschwindigkeiten der Wirbelbewegung verschwinden zu laßen. Man darf
nun wohl annehmen daß in einem derartigen Raum, deßen Dimensionen von
derselben Größenordnung sind wie die Dimensionen der Wirbel
$\frac{\partial (\overline{{u'}^2})}{\partial x}, \frac{\partial
(\overline{u' v'})}{\partial y}, \frac{\partial
(\overline{u' w'})}{\partial z}$ als constant zu betrachten
sind. Da /4/ durch ergiebt sich für den Mittelwerth von (c)
\begin{equation*}
\overline{u'}\left[\frac{\partial (\overline{{u'}^2})}{\partial x}+\frac{\partial
(\overline{u' v'})}{\partial y}+\frac{\partial
(\overline{u' w'})}{\partial z}\right] + \textrm{ u.s.w.,}
\end{equation*}
und dieses verschwindet wegen
$\overline{u'}=\overline{v'}=\overline{w'}=0$. Es ist also auch
\begin{equation*}
B = 0.
\end{equation*}
Zu demselben Schluß kommt man wenn man bei dem Rohr die Mittelwerte
nicht über einen gewißen Raum, sondern über eine kleine der
Rohrachse parallele Strecke betrachtet.
In Folge des Verschwindens von A und B bleiben die von mir in meiner Abhandlung gezogenen Schlüße bestehen.
Bei unserem Gespräch über diesen Gegenstand kam die Rede auch auf die Abhandlung von Emden und auf Untersuchungen von Kelvin. Der Titel der Arbeit von Emden lautet: "Ueber die Ausströmungserscheinungen in permanenten Gasen" (Habilitationsschrift, Leipzig, Barth); dieselbe erschien im Auszuge in Wied. Ann. Bd. 69, p. 264 und 426. Was Kelvin betrifft, meinte ich die Abhandlung "On stationary waves in flowing water["], Phil. Mag. 5th series, Vol. 22, pp. 353, 445, 517, und Vol. 23, p. 52.
Ich kann dieses Schreiben nicht schließen ohne Ihnen noch einmal herzlich zu danken für alle die Freundlichkeit die Sie mir in Aachen erwiesen haben. Die "Printen", die ich mitbrachte, wurden von den Kindern für herrlich erklärt und wenn mein kleiner Junge schreiben könnte würde er gewiß die liebenswürdigen Postkarten die Sie ihm neulich schickten sofort beantwortet haben. Aus denselben vernahmen wir daß wir im Laufe der Jahre noch einen zweiten Naturforscher Sommerfeld haben werden; möge er ein recht tüchtiger sein und nicht nur als Naturforscher sondern in jeder Hinsicht seinem Namen Ehre machen.
Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin bestens zu empfehlen und mit vielen Grüßen auch von meiner Frau und den Kindern verbleibe ich Ihr ergebener
H.A. Lorentz
Die Formel $\bar{u} = \bar{u}$ auf p. 32 meiner
Abhandlung soll natürlich lauten
$\overline{\bar{u}} = \bar{u}$.