Leeuwarden, den 2. Juli 1901.
Sehr verehrter Herr College,
Entschuldigen Sie es, bitte daß ich erst jetzt dazu komme, Ihr Schreiben zu beantworten; die letzten vierzehn Tage ziehe ich im Lande herum, um Prüfungen an einigen Gymnasien beizuwohnen, und hatte ich also kaum Gelegenheit zur ruhigen Erwägung der von Ihnen angeregten Fragen. Es freut /2/ mich sehr daß wir, dank sei Ihrer Vermittlung zu einer einheitlichen Bezeichnungsweise werden gelangen können; an der Möglichkeit zweifle ich gar nicht und halte ich denn auch Ihre Aufgabe für viel außichtsvoller als die der Haager Conferenz. Was mich betrifft, so werde ich mich gerne an eine Verabredung mit den anderen Mitarbeitern halten, wenigstens so weit mir das möglich sein wird. Ich kann natürlich nicht mit Bestimmtheit versprechen, nie von derselben abzuweichen.
Zu Ihren Vorschlägen habe ich fast gar keine Gegenvorschläge zu machen; vielmehr /3/ kann ich mich im Allgemeinen denselben sehr gut anschließen. Ich werde ja auch an den bis jetzt von mir benutzten Bezeichnungen nur wenig zu ändern haben.
Ich habe nur ein Bedenken von einiger Wichtigkeit. Sie wollen bei $\vartheta$ den Faktor $4 \pi$ aufnehmen. Wenn wir das thun, so werden wir die einfachen Beziehungen: Ladung eines Conductors = $\int \vartheta_n d\sigma$, Strom = $\frac{\partial \vartheta}{\partial t}$ (oder $\frac{1}{c} \frac{\partial \vartheta}{\partial t}$) aufgeben müßen, und das scheint mir wirklich ein Nachtheil zu sein. Bei $\vartheta$ denken wir doch wohl immer an die "durch ein Flächenelement hindurchgeströmte Electricitätsmenge", und dem entspricht es, daß in jenen Be/4/ziehungen der Factor $4 \pi$ nicht auftritt.
Ganz können wir das $4 \pi$ doch nicht los werden. Wir dürfen die fundamentalen Einheiten nicht ändern, und werden also immer $\textrm{curl} \mathfrak{H} = 4\pi \mathfrak{B}$ schreiben müßen. Die Vereinfachung, welche Ihr Vorschlag herbeiführen würde, würde sich auf die Gleichungen für Dielectrica beschränken, und wenn man auf die in dieser Weise zu erzielende Symmetrie Werth legt, so kann man hier etwa $4 \pi \vartheta = \vartheta'$ setzen. Die "electrische Erregung" bliebe dann $\vartheta$.
Das Wort "Erregung" scheint mir in mancher Hinsicht glücklich gewählt; jedoch kann ich jetzt /5/ schwerlich sagen, inwiefern ich mich derselben werde bedienen können.
In der Theorie polarisirter Dielectrica setzt sich die Gesammterregung aus der im Aether bestehenden Erregung und den "electrischen Momenten" oder der "Polarisation" zusammen.[Sehr gut] Letztere könnten wir mit $\mathfrak{P}$ bezeichnen. Ist dann $\vartheta$ die Gesamterregung, und $\theta$ die Erregung im Aether, so wird \begin{eqnarray*} \vartheta = \theta + \mathfrak{P} \end{eqnarray*} (Wollte man den Buchstaben $\vartheta$ und $\theta$ die von Ihnen vorgeschlagene Bedeutung beilegen, so würde diese Formel lauten: \begin{eqnarray*} \vartheta = \theta + 4 \pi \mathfrak{P}, \end{eqnarray*} entsprechend der Gleichung \begin{eqnarray*} \mathfrak{B} = \mathfrak{H} + 4 \pi \mathfrak{M} \end{eqnarray*} )
/6/ Zum Schluß erlaube ich mir noch folgende Bemerkungen und Fragen.
1. Hat sich wirklich das Wort "curl" schon so weit eingebürgert, daß wir es den Ausdrücken "Rot" oder "vert" werden vorziehen müßen?[Fraglich.] Das englische Wort ist mir nicht lieb; ich werde mich jedoch der Entscheidung der anderen Mitarbeiter fügen.
2. Wäre es nicht gut, für das skalare Produkt zu schreiben (A,B)? Die Klammern würden es deutlicher erkennen laßen, daß es sich um eine einheitliche Größe handelt.
3. Können Sie sich damit zufrieden erklären daß wir für das Quadrat des Tensors einer ge/7/richteten Größe $\mathfrak{A}$ einfach $\mathfrak{A}^2$ schreiben?[Nein]
4. In der Schreibweise $\dot{\mathfrak{A}}$ scheint mir wohl ein Vortheil zu liegen, sobald es sich z.B. um ein Vectorprodukt wie $[\dot{\mathfrak{A}}.\frak{mathB}]$ handelt.[Ja]
Hiermit habe ich Alles gesagt, was ich zu bemerken hätte. Es wird mich freuen wenn Sie mir in einiger Zeit mittheilen wollen, was nun als festgesetzt betrachtet werden darf.
Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin bestens zu empfehlen verbleibe ich hochachtungsvoll
Ihr ergebener
H.A. Lorentz