Noordwykerhout bei Leiden den 24. März 1902.

Sehr verehrter Herr College,

Sie werden das Manuskript meiner beiden Encyklopädie-Artikel, welches ich vorgestern an Sie abschickte, erhalten haben, und ich muß jetzt damit anfangen, Sie vielmals um Verzeihung dafür zu bitten daß ich Sie nicht einmal, wie ich es anfänglich that, um eine neue Verlängerung des Termins gebeten habe. Der Grund davon war daß ich von Woche zu Woche gehofft habe, die Arbeit abschließen zu können, und mich immer wieder /2/ darin getäuscht gesehen habe.

Zweitens bin ich Ihnen eine Erklärung dafür schuldig, daß ich den mir zugewießenen Raum so weit überschritten habe. Dies ist aus verschiedenen Ursachen geschehen. Zunächst habe ich die Artikel so redigiert daß sie - ich hoffe das wenigstens - auch wirklich gelesen werden können; wer die Mühe nimmt, die Formeln nachzurechnen ist durch die gegebenen Anwendungen dazu völlig in den Stand gesetzt. Dazu kommt weiter daß ich an verschiedenen Stellen eine ziemlich ausführliche Diskußion habe geben müßen, wie z.B. in V 13, § 33 über die Anwendung der Principien der Mechanik, und am Schluß des zweiten Artikels über die von Cohn vorgeschlagenen Gleichungen, deren Würdigung doch nicht fehlen dürfte. Endlich habe ich speciell in der Elektronentheorie, um ein zusammenhängendes Ganzes zu erreichen, verschiedene Teile neu bearbeiten müßen.

Ich fürchte indeß daß der Umfang am /3/ Ende zu groß geworden ist, und daß Sie also streichen werden müßen, was Sie selbstverständlich thun können wo das Ihnen nöthig zu sein scheint.

Vielleicht kann § 3 des ersten Artikels zum Teil fortbleiben; ich habe diesen § hinzugefügt weil ich nicht wußte, in welcher Weise Sie die Leser mit den getroffenen Festsetzungen bekannt machen wollen. Könnte vielleicht auch § 4 durch Hinweisung auf einen anderen Artikel gekürzt werden? Die hier eingeführten Bezeichnungen sind mir in der Darstellung der Hertz'schen Theorie von großem Nutzen gewesen; sie bieten sich hier von selbst dar und ermöglichen es, die Diskußion der Spannungen und den Bericht z.B. über die Helmholtz'schen Untersuchungen in engen Rahmen zusammenzufaßen. Was diese letztere Arbeit, ich will sagen die von Helmholtz gewünschte Anwendung des Princips der kleinsten Wirkung betrifft, so habe ich hier den Gedankengang und die Annahmen etwas klarer /4/ hervortreten zu laßen versucht als er selbst es that; daher die Fußnote zu 13, § 38. Ich möchte auch Ihre Aufmerksamkeit auf 13, § 30 hinlenken. Eigentlich versteht es sich von selbst daß die Erregungslinien auch dann wenn sie nicht ins Unendliche gehen, im Allgemeinen nicht geschloßen sind; ich muß aber gestehen daß ich [sie?] mir immer, ohne viel darüber nachzudenken als geschloßen gedacht hatte. In rein mathematischer Hinsicht ist diese Frage intereßant; im Artikel von Abraham fand ich jedoch nichts darüber. Einige Autoren sagen, die Linien seien geschloßen. Darf man aber annehmen, daß die Meisten wißen, sie seien das nicht, dann kann hier gekürzt werden.

Im Allgemeinen habe ich mich an unsere Verabredung über die Bezeichnungen gehalten. Ich habe indeß einige hinzufügen müßen, wie z.B. $\mathfrak{K}$ ponderomotorische Kraft, $\mathfrak{N}$ Kräftepaar, $\mathfrak{G}$ Vektorpotential der elektrischen Erregung, $\mathfrak{f}^e$ elektromotorische Kraft, $\mathfrak{w}$ oder $\mathfrak{v}$ Geschwin/5/digkeit, $\mathfrak{q}$ unendlich kleine Verrückung, $\mathfrak{V}$ Verschiebungsraum, $\mathfrak{W}$ Widerstand, u.s.w. Im zweiten Artikel kommen noch dazu $\vartheta$, $\mathfrak{h}, \mathfrak{f}, \mathfrak{a}$, u.s.w. und $\mathfrak{p}, \mathfrak{m}$ für das elektrische, resp. magnetische Moment eines Teilchens, u.s.w. Die Größen der Vektoren möchte ich mit fettgedruckten (nicht zu schweren) lateinischen Buchstaben unterscheiden, um z.B. m (Moment) und m (Maße) auseinander zu halten. Ich habe, um dem Setzer die Arbeit zu erleichtern, diese Buchstaben blau unterstrichen.

Ich habe nicht immer die Verbindung zweier Vektorenprodukte oder eines solchen mit einem skalaren Produkt vermeiden können; daher wäre es mir lieb, wenn in jedem Produkte die beiden Vektoren durch einen zwischengesetzten Punkt getrennt würden, also $(\mathfrak{A} . \mathfrak{B})$, $[\mathfrak{A} . \mathfrak{B}]$.

Eine kurze Bezeichnung einer linearen Vektorfunktion, die fast dieselbe Gestalt hat wie das Produkt eines Vektors mit einem skalaren Koeffizienten, brauchte /6/ ich sehr; ich hoffe daß Sie mit der § 3 eingeführten zufrieden sein können.

In einem Punkt ist es mir schwer geworden, mich an unsere Verabredungen zu halten. Jetzt, da es meine Aufgabe war, möglichste Kürze anzustreben, ist mir das $4 \pi$ recht verhaßt geworden, und beneide ich Heaviside um seine dadurch nicht entstellten Formeln. Ich habe § 5 eine hierauf bezügliche Fußnote aufgenommen. Fast möchte ich Sie aber vorschlagen, wenn das im Hinblick auf die Artikel der anderen Autoren noch möglich wäre, die Sache umzukehren, d.h. die H'schen Einheiten einzuführen, und in einer Anmerkung die Aenderungen anzugeben, durch welche man zu den gebräuchlichen Einheiten übergehen kann. Ich überlaße das aber Ihrer Entscheidung.

Die mir von Wien überlaßenen magneto-optischen Erscheinungen (Faraday, Kerr, Zeeman) habe ich hier nicht aufgenommen. Es schien mir daß ich, wenn ich das gethan hätte, zuerst ins Einzelne gegangen wäre; habe /7/ ich mich ja auch über den Hall-Effekt nur sehr kurz gefaßt. Vielleicht ist es beßer daß meine Behandlung dieser Erscheinungen dem Wien'schen Artikel einverleibt oder angehängt werden. Indeß bin ich bereit, dieselbe noch in V 14 einzuschalten, wenn Sie das wünschen.

Die Aberration und was damit zusammenhängt habe ich wohl in gebührender Weise berücksichtigt und was die Röntgenstrahlen betrifft, dürfte 14, § 14 genügen. Nur müßen irgendwo in der Encyklopädie die Untersuchungen von Ihnen selbst und von Wind über die Interferenz dieser Strahlen erwähnt werden. Dazu bietet jedoch V 14 wohl nicht die geeignete Stelle; höchstens könnte man dieser Frage eine Fußnote widmen.

Ich glaube wohl, im Allgemeinen das Mathematische genügend in den Vordergrund gesetzt zu haben, und in dieser Hinsicht dem Plane der Encyklopädie getreu gewesen zu sein. In einer anderen Beziehung bin ich das, wie ich fürchte, /8/ nicht gewesen, nämlich was die Vollständigkeit betrifft. Nicht nur habe ich wegen Mangels an Raum über ältere Arbeiten (z.B. Euler, Hankel, Edlund), an die sich wohl keine weitere Entwicklung anknüpfen wird, und die mathematisch wenig Intereße bieten, nicht berichtet, sondern es fehlen auch viele neueren Untersuchungen. Hätte ich alles aufnehmen wollen, dann wäre die Darstellung gar zu trocken geworden. Auch hatte ich den Grund daß ich nicht alles habe lesen können.

Der Mangel an Vollständigkeit zeigt sich auch in dem Litteraturverzeichniß; von einem vollständigen Verzeichniß kann aber selbstverständlich die Rede nicht sein.

Alles zusammengenommen ist was ich geschrieben habe vielleicht zu wenig Encyklopädieartikel, und zu viel Abhandlung und stellenweise Lehrbuch; jedoch hätte ich das nicht ganz und gar anders machen können.

/9/ Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir Ihre Bemerkungen und Ihre Meinung über die oben berührten Fragen mitteilen wollten. Noch in einer anderen Hinsicht könnten Sie mir einen großen Gefallen thun. Ich fürchte daß man es den Artikeln ansehen kann, daß sie nicht von einem Deutschen verfaßt worden sind. Ich meine hiermit nicht nur die Sprachfehler, deren es eine ziemliche Anzahl geben mag, sondern besonders eine gewiße Armuth des Ausdrucks, die Folge davon daß mir eine beschränkte Wahl von Worten und Wendungen zu Gebote steht. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Fehler verbeßern und hie und da, wozu oft die Aenderung weniger Worte genügt, die Darstellung etwas lebhafter und abwechslungsreicher machen könnten; oder beßer noch, denn ich darf Ihre Zeit nicht zu sehr in /10/ Anspruch nehmen, wenn Sie das irgend einem dazu fähigen jungen Mann auftragen könnten.

Mit bestem Gruß und vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener
H.A. Lorentz

Ich hatte anfangs die Absicht, in den Fußnoten die Titel der citierten Abhandlungen zu erwähnen, was in einigen Fällen wo im Text der Gegenstand der Arbeiten nicht schon angedeutet ist, nützlich sein kann. Später bin ich davon zurückgekommen, weil es zu viel Raum erfordert; ich habe diese Teile der Fußnoten gestrichen, jedoch mit Bleistift um Sie entscheiden zu laßen. Im Falle einiger grundlegender Arbeiten kann man eine Ausnahme machen.

Ich habe als Regel angenommen, in den Fußnoten die Initiale nur dann hinzuzufügen, wenn ein Autor zum /11/ ersten Mal genannt wird.

Ich studiere jetzt gerade die Untersuchungen von Bjerknes genauer. Ein kurzes Referat darüber könnte ich dem § 42 des ersten Artikels folgen laßen. Indeß scheinen mir diese Untersuchungen doch nur eine entfernte Verwandtschaft zu der Elektricitätstheorie zu haben und in die Hydrodynamik zu gehören. Gleiches gilt von den Arbeiten von Pearson.

Schicken Sie, bitte, Ihre Antwort nicht hierhin, sondern nach Leiden.