Leiden, 13 November 1907.

Sehr verehrter Herr College,

Zu meinem Schrecken sehe ich, daß ich Ihren Brief schon einen Monat unbeantwortet gelaßen habe, und das während eine viel ältere Schuld mein Gewißen peinigte. Ich habe nämlich noch niemals meinen Dank ausgesprochen für die schönen Verse welche Ihre Frau Gemahlin mir im Dezember vorigen Jahres schickte, und für die ich ihr, obgleich sie mich /2/ wegen des unverdienten Lobs erröten machten, von ganzem Herzen dankbar bin, ebenso wie für das wie mir scheint vorzüglich gelungene Porträt meines kleinen Namensvetters. Ich hoffe sehr, daß Sie beide mir das lange Stillschweigen verzeihen werden; zweifeln Sie nicht daran, daß ich auf Ihre mir so manchmal erwiesene freundliche Gesinnung den höchsten Wert lege.

Es freut mich sehr, daß es Ihnen in dem neuen Wohnort und dem neuen Wirkungskreise gut geht, und ganz besonders interessierte mich Ihre Mitteilung über die "Niedlichkeit" und "Frechheit" Ihres kleinen Knaben. Möge er immer der Mutter und Ihnen ebenso viel Freude machen wie er es jetzt /3/ offenbar tut.

Die einzige weniger erfreuliche Nachricht in Ihrem Schreiben war die, welche sich auf Ihr Verhalten zu Lindemann bezieht. Ich muß gestehen, daß ich seine Ausführungen nur ziemlich flüchtig gelesen habe, da ich keinen Augenblick fürchtete, wir Alle hätten uns so geirrt wie er behauptet. Hätte ich aber gewußt, daß der Streit noch ein Nachspiel zu Ihrer Berufung war, so hätte ich auf den Gedanken kommen können, daß es Ihnen vielleicht lieb gewesen wäre, wenn ich meinerseits eingriffe. Jetzt ist das wohl überflüßig geworden; Sie werden ohne jede Hilfe glänzend das Feld behaupten.

Was die Encyklopädie betrifft, so scheint es auch mir, daß es den Vorzug verdient, meinen Beitrag hinter den ersten Art. Wien zu /4/ drucken und werde ich also gern versuchen, bis Ostern fertig zu sein. Was den Inhalt betrifft, so sind Sie wohl damit einverstanden, daß ich im allgemeinen die magneto-optischen Erscheinungen also auch die Drehung der Polarisationsebene und den Kerr-effekt behandle. Es wird mir sehr lieb sein, sobald das möglich ist, einen Abzug von Wien's Artikel zu erhalten, damit ich mich demselben anschließen kann.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Ihr treu ergebener
H. A. Lorentz

Uns Allen geht es so gut wie wir nur wünschen können.