Göttingen \frac{21}{VI} [19]00.
Lieber Hr. College!
Hoffentlich hat Ihnen Dyck jetzt nähere Nachricht gegeben. Die Programme sind genehmigt und nur wegen der Zusatzbogen wurde ein abweichender Beschluss gefasst, den ich aus dem Gedächtniß nicht mehr sicher reconstruiere. Auch ich werde Programme drucken lassen, ohne die für den einzelnen Artikel in Aussicht genommene Bogenzahl hinzuzufügen. Boltzmann ist krank, d.h. er findet sich gegenüber der Alternative Wien-Leipzig (über die noch keineswegs endgültig entschieden war) in einem tief-deprimierten Gemütszustande. Hoffentlich wird das wieder anders. Es ist /2/ unmöglich, über seine Mitwirkung an der Encyclopädie (an der er übrigens selbst in fast rührender Weise festhält) ein Prognostikon zu stellen.
Was Sie mir über Anfreundung mit den Technikern sagen, ist mir natürlich sehr wichtig. Die Herren sind gegen uns so thöricht argwöhnisch, weil sie die Universität gar nicht kennen. Ich habe das noch neulich im Gespräch mit Intze gesehen: man denkt sich die Universität Göttingen als einen geschlossenen Organismus und fasst mich als den Sprecher der Gesammtheit, während es sich doch in Wirklichkeit um eine grosse Zahl frei neben einander herlaufender Bestrebungen handelt nach dem schönen /3/ Princip: Freiheit und Gleichgültigkeit. Sie schreiben von meinen "Leitsätzen". Ich habe gar keine solche Leitsätze aufgestellt, vermuthe vielmehr, dass es sich um die Sätze handelt, welche das Ministerium zum Zweck eines Abgleichs aufgestellt hat. Althoff sagte mir, dass er mit Slaby demnächst einmal herkommen und nach dem Rechten sehen wolle, - ob es geschieht, ist eine offene Frage, und jedenfalls erfahre ich vorläufig gar nichts von den Verhandlungen, die zwischen Aachen, Hannover und Charlottenburg in der Angelegenheit spielen. Wir haben unterdessen eine grössere Schrift über angewandte Math. und Physik und ihre Bedeutung an der Schule in Vorberei/4/tung, von der ich Intze letzthin die ersten Bogen gab.* Die soll auch ein Beitrag für die etwaigen Discussionen bei der Aachener Versammlung sein.
Ich habe mit grosser Verwunderung gesehen, dass Sie wirklich die Röntgenarbeit für die Annalen abgeschlossen haben; möge Ihnen diese Leistungsfähigkeit erhalten bleiben! Es grüsst bestens
Ihr sehr ergebener
F. Klein
*NB. ganz ohne Polemik