Göttingen, 15. Aug. 1900.
Lieber Hr. College!
Ehe ich nächster Tage zu Stäckel und Petersen reise (Adr. bis etwa Monatsschluß: Prof. J. Petersen, Hajbakketus bei Helleböck, Dänemark) möchte ich Ihnen Einiges über die Encyclopädie schreiben:
1. Ich habe letzthin in Heidelberg den astronomischen Teil insoweit in Gang gesetzt, als ich im Laufe des Wintersemesters mit Lehmann-Filhés eine genaue Disposition zu Stande bringen will, die dann Ostern dem Urteil von Bruns und Seeliger unterworfen werden soll. Dann erst wird Lehmann-F. sich entscheiden, ob er endgültig die Redaktion übernimmt, und ev. an die Werbung von Mitarbeitern herangehen.
/2/ 2. Das Programm der Aachener Versammlung ist, was Section I angeht, entschieden dürftig. Mich verdrießt auch, daß die Sectionen 3 und 5 auf meinen Vortrag gar nicht hinweisen. Ich weiß ja sehr wohl, daß die Physiker für die Entwickelung ihrer Beziehungen zur Mathematik sehr wenig Zeit und Interesse übrig haben; es ist nur die Frage, ob wir uns immer wieder Mühe geben sollen, den Physikern entgegenzukommen.
Dyck schlug neulich vor, wir sollten unsere bez. Encyclopädiebesprechung, weil er selbst vorher in Berlin sein muß, etwa auf den 23ten oder 24ten September nach Göttingen legen. Das würde Ihnen ja vermutlich keine Mühe machen und für Fr. Meyer und selbst Burk/3/hardt kaum unbequem sein. Außerdem wäre Wiechert zur Stelle, der doch nicht nach Aachen kommt. Ich habe einstweilen an Dyck geantwortet, daß ich aus Prinzip die Jahresversammlung der mathematischen Vereinigung hochhalte und ihn um so mehr bitte, doch nach Aachen zu kommen, als er im folgenden Jahre vermutlich Vorsitzender der Vereinigung sein wird. Ich will auch an dieser Auffassung festhalten, wenn Sie die Aachener Versammlung für unsere Encyclopädieinteressen etwas vollwertiger machen. Kommen den Burkhardt und Meyer wirklich?
3. Ob Aachen oder Göttingen, ich halte natürlich daran fest, daß wir nach der Versammlung ausführlich /4/ über den Kreisel conferieren.
4. Im Übrigen wollte ich Sie bitten, mir doch bis Anfang September einen ersten Entwurf zur Disposition des Artikels IV, 21 (physikal. Grundlagen der Elasticitätslehre) zu machen, den ich dann mit Wiechert durchsprechen will, auch sonst noch verschiedene Seiten überlegen will, so daß wir bei der folgenden Zusammenkunft uns ausführlich über die Sache unterhalten können. Die Fertigstellung des Artikels ist ja z.Z. noch nicht eilig, wohl aber müßten wir ihn jetzt so genau definieren, daß die anderen Referenten über Elasticitätsfragen wissen, wie sie sich an denselben anzuschließen haben.
/5/ 5. Ein letzter Punct, den ich heute berühren möchte, ist, daß die Vectoranalysis von Abraham jetzt in Gestalt eines vorläufigen Manuscriptes vorliegt. Ich habe dasselbe gestern an Love geschickt, der es an Tedone und ev. Burkhardt weitergeben soll, von wo es an mich zurückkommt, - hoffentlich mit einer großen Reihe kritischer und ergänzender Bemerkungen. Diesen ganzen Stoff werde ich Ihnen bei unserer persönlichen Besprechung ebenfalls vorlegen. In der That hat Abraham seinen Entwurf so gearbeitet, daß er zugleich eine allgemeine Einleitung in die Differentialgleichungen der mathematischen Physik ist.
/6/ Hoffentlich geht bei Ihnen alles wohl. Es grüßt aufs Beste
Ihr sehr ergebener
F. Klein