München,
Schellingstr. 21. II.
15. VII. 1900.
Hochgeehrter Herr Professor!
Durch Vermittlung von Herrn Prof. Dyk beabsichtige ich in den Math. Annalen eine Arbeit "Über die Beugung und Polarisation des Lichts durch einen Spalt" zu veröffentlichen. Sie haben in Ihrer grundlegenden Arbeit über die Diffraktionstheorie eine Bearbeitung auch dieses Thema's in Aussicht gestellt und ich folge eigenem Empfinden, wie einem von Herrn Prof. Dyk geäußerten Wunsche, indem ich mir vor jeder Veröffentlichung meiner Untersuchung die Anfrage bei Ihnen erlaube, ob Sie diese Absicht inzwischen ausgeführt haben oder /2/ noch in ihrer Ausführung begriffen sind, um danach meine Publikation zurückzuhalten oder zu modifizieren.
Darf ich Ihnen kurz mein Verfahren andeuten? - Es ist ziemlich gewiß, daß die alte Kirchhoff'sche Beugungstheorie allgemein innerhalb der Gebiete, für welche sie überhaupt Gültigkeit beansprucht, eine gute Annäherung an die Lösung des strengen Beugungsproblems darstellt. Dies wollte ich für beliebige Öffnungen nachweisen, sah mich aber genötigt, mich zuerst mit einem spezielleren Problem vertraut zu machen und versuchte es mit dem Spalt.
Ist Z Ihre Lösung für den einen, $Z'$ für den anderen Schirm, welche den Spalt begrenzen, und fällt das Licht aus dem Unendlichen senkrecht zur Schirmebene ein, so ist der Ausdruck: \begin{equation*} Y = Z + Z' - e^{-ikr \sin \varphi} \end{equation*} eine angenäherte Lösung des Spaltproblems, /3/ wenn der Spalt breit ist. Denn z.B. auf dem ersten Schirm ist $Z = 0$ und bei breitem Spalt sehr nahe $Z' = e^{-ikr \sin \varphi}$, sodaß nahe $Y = 0$ wird, wie es das Problem verlangt. Nennt man $Y_1$ den kleinen Rest, der in Wirklichkeit auf diesem ersten Schirm verbleibt, so kann man denselben beseitigen mit Hülfe der Funktion U und §. 6. pag. 351. Ihrer Arbeit. Denn diese ist die Green'sche Funktion für das Beugungsproblem an einem geraden Rand und der Ausdruck: \begin{equation*} Y_2=\frac{1}{2 \pi}\int Y_1 \frac{\partial U}{\partial n} ds \end{equation*} (das Integral erstreckt über den ersten Schirm s) hat auf diesem Schirm die Randwerte: $Y_2 = Y_1$. Setzt man jetzt: $Y = Z + Z' - e^{-ikr \sin \varphi} - Y_2$ so wird Y auf dem einen Schirm null, es bleibt aber noch ein Rest auf dem anderen. Diesen kann man mit Hülfe der entsprechenden Green'schen Funktion für den zweiten Schirm $U'$ beseitigen. Dabei entsteht aber wieder ein kleiner Fehler auf dem ersten Schirm, der, wie $Y_1$, mit /4/ Hülfe von U zu beseitigen ist u.s.f. Es entsteht so eine unendliche Reihe von Correktionsgliedern. Man kann sagen, daß das Verfahren aus einem fortwährenden Herüberwerfen der Randwerte von einer Seite des Spaltes auf die andere besteht. Die Convergenz des Verfahrens hat sich sehr leicht beweisen lassen und sie besteht merkwürdiger Weise für beliebig engen Spalt. Für einen Spalt, der mehrere Wellenlängen breit ist, ist die Convergenz rapid, und daraus ist dann leicht die Gültigkeit der Kirchhoffschen Theorie für kleine Beugungswinkel, große Entfernung vom Spalt und nicht zu engen Spalt herzuleiten.
Ich habe aber auch die Correktionsglieder, die sich zunächst als
vielfache Integrale darstellen, auf eine berechenbare Form zu bringen
gesucht. Was ich da erhalten habe, läßt sich /5/ freilich an Eleganz
und Vollständigkeit nicht im Entferntesten mit Ihrer Lösung des
Problems für den einfachen Rand vergleichen. Ich bekomme eine
Entwicklung: \begin{equation*}
Z = \sum A_{\beta} Y_{\beta}
\end{equation*}
Darin sind die $Y_\beta$ Funktionen von r und $\varphi$:
\begin{align*}
Y_\beta(r,&\varphi) =
&\textrm{Zahlenfaktor} \cdot \sin \varphi \cdot \int\limits_1^\infty
\frac{d \eta}{R} e^{-ikR} \left(\frac{R - 2d}{r} -
\eta\right)^{\beta - \frac{1}{2}} \frac{d^\beta}{d \eta^{\beta}}
\left[\frac{\sqrt{1 + \eta}}{\eta - \cos \varphi}\right]
&R^2 = r^2 + 4dr \eta + 4d^2
&2d \; \textrm{ die Spaltbreite.}
\end{align*}
Die Coeffizienten $A_\beta$ sind Funktionen der Spaltbreite
und werden selbst durch mehrfache Summen dargestellt. Das Gute ist,
daß die Entwicklungen alle rasch konvergieren, sodaß selbst noch für
einen Spalt von einer Wellenlänge Breite die rechnerische Vergleichung
zwischen Theorie und Beobachtung durchführbar wäre.
Indem ich hoffe, daß Ihnen diese Mit/6/teilungen nicht unliebsam sind, verbleibe ich
Ihr hochachtungsvoll ergebener
K. Schwarzschild.
Privatdozent d. Astronomie a.d. Uni. München.