Göttingen 24. XI. 02.

Lieber Herr College!

Die von Ihnen angeregten Fragen sind keineswegs so ganz einfach zu beantworten, und ich fürchte, daß ich Sie nicht völlig befriedigen werde. In dem Compendium habe ich mich aus didaktischen Gründen einigermaßen dem historischen Gang der Entwicklung angeschlossen; das hat natürlich andere Nachtheile: insbesondere treten bei aller Vorsicht der Verclausulirung gerne specielle Resultate allgemeiner gültig auf, als Recht ist, und es kommen auf /2/ diese Weise scheinbare Widersprüche zustande.

Vielleicht kann man den historischen Gang so schildern. Die Gleichung \begin{displaymath} \Phi = \frac{1}{2} \int \varrho \varphi' dk = \frac{1}{8 \pi} \int (X \mathfrak{X} + Y \mathfrak{Y} + Z \mathfrak{Z}) dk \end{displaymath} führt bei einem System von Conductoren, die in eine $\infty$ Flüssigkeit eingetaucht sind, zu den Resultaten der alten Theorie, insbesondere zu Coulomb's Gesetz. Kirchhoff hat gezeigt, daß sie auch in dem Falle, wo dem System Körper ohne wahre Ladungen $\varrho = 0$!) angehören, die der Beobachtung entsprechenden Kraftgesetze liefert, die aus dem eigentlichen Coulomb'schen Gesetz, das nur für wahre Ladungen aufgestellt war, nicht folgen würden.

/3/ Als nun neue Erscheinungen, wie z.B. das Aufsteigen einer Flüssigkeit zw. Condensatorplatten [Skizze], bekannt wurden, die sich auch aus dem für freie Ladungen erweiterten Coulomb'schen Gesetz nicht ableiten ließen, griff man auf die Formel $\Phi = \frac{1}{2} \int \varrho \varphi' dk$ zurück, die ja viel allgemeiner ist, als jenes Gesetz.

Um der Variation von $\Phi$ wegen der Feldwirkung zu entgehen, benutzte Helmholtz dabei jene specielle Form \begin{displaymath} \Phi_0 = \int (\varrho \varphi' - \frac{1}{8 \pi} (X \mathfrak{X} + Y \mathfrak{Y} + Z \mathfrak{Z}))dk, \end{displaymath} deren wegen $\varphi'$ genommene Variation verschwindet. (Komp. p. 70)

So sind die allgemeinen Kraftformeln /4/ (p. 95 und 138) gewonnen, als letzte Erweiterung des Coulomb'schen Gesetzes. Eine etwas andere Ableitung, die auf jenes alte Gesetz gar nicht Bezug nimmt giebt Hertz (Ausbreitung der el. Kraft, p. 275 u. f.)

Ich glaube hiermit sind Ihre Fragen implicite soweit beantwortet, als möglich. Die erste Erweiterung des Coul. Gesetzes gab Kräfte ohne wahre, die zweite solche ohne freie Ladungen - letztere giebt ja dergl. auch ohne Potential, für Ladungszustände, und hierin ist die ganz besondere Bedeutung derselben begründet. Es ist nicht unmöglich, daß sie* hier ebenso noch Erwei/5/terungen der Biot-Savart'schen u. Ampère-Neumann'schen Formeln enthält, wie zuvor der Coulomb'schen. Auf hierher gehörige Fragen habe ich im Komp. gelegentlich hingewiesen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir mit einigen Worten Ihre Ansicht über das Obige mittheilen wollten.

- Eine "gründliche Zusammenstellung der Abweichungen von dem Hooke'schen Gesetz" habe ich wohl nicht veranlaßt. Das Einzige, was mir in dieser Hinsicht augenblicklich gegenwärtig ist, findet sich im eingang einer Arbeit von J.O. Thompson (Wied. 44, p. 555). Aber es liegt hier eine große Differenz der Auf/6/fassungen an verschiedenen Stellen vor, die man vielleicht als "physikalisch" und "technisch" characterisiren könnte, ohne damit eine exacte Scheidung vorzunehmen.

Wir beziehen das H.'sche Gesetz auf die mit der ausgeübten Kraft verschwindenden Antheile der Deformationen, viele Techniker auf die ganzen durch die einwirkende Kraft entstehenden Deformationen. Demgemäß ist es bei uns allgemeine Regel nicht bei Be- sondern bei Entlastung zu beobachten. Es entspricht das den theoretischen Gesichtspunkten; auch erhält man nur so bei wiederholten Belastungen u. Entlastungen übereinstimmenende Resultate, da die neu erregten dauernden /7/ Deformationen bei wiederholten Belastungen immer kleiner, die ganze Dauerdeformation schließlich (fast) constant wird.

(Da die dauernden Deformationen im Allgemeinen ziemlich langsam entstehen, so kann man sich bei Festigkeitsbeobachtungen zu theoretischen Zwecken** von ihnen nahezu frei machen, in dem man schnell operirt. Unsere Versuche dauern einige Stunden.)-

Eine Erweiterung der elastischen Gleichungen für die zurückgehenden Deformationen (die wir bei Neumann direct "elastische" zu nennen gelernt haben) habe ich gegeben; sie setzt /8/ immer noch kleine Deformationen, aber im elastischen Potential solche Parameter voraus, daß noch Glieder dritten Grades berücksichtig werden müssen. Ein solcher Fall ist der von Thompson beobachtete. Ich lege die kleine elementare Arbeit, die sich insbesondere gegen Th.sche Schlußfolgerungen in Bezug auf meine Beobachtungen wendet, bei. Allgemeineres gab Finger in Wien.

Daß Sie sich mit theor. Physik beschäftigen, freut mich herzlich. Ich gönne Ihre Kräfte den Technikern nicht recht! Sie müssen uns die mit Kirchhoff etc. verlorene Weltposition wieder erobern helfen.

Besten Gruß Ihrer lieben Frau!

Treulich
Ihr W. Voigt.

*für die magnetischen Kräfte gebildet

**der Techniker braucht gerade Dauerbelastungen.