Göttingen 9. XII. 02.

Lieber Herr College!

Sie haben völlig Recht: wir (ich auch!) sollten den Sachverhalt bez. der Maxwell'schen Drucke natürlicher aussprechen. Warum wir's nicht thun? Ich glaube, wir fürchten, uns dabei den Mund zu verbrennen, weil die Ihnen auffallenden Kräfte sich vielleicht doch nochmal auf Ladungen zurückführen lassen. Vestigia terrent: zeigt sich doch z.B., daß man gezwungen wird, die pyro- und piezoelectrischen Effekte wahren Ladungen zuzuschreiben, (Komp. II p. 123) /2/ aber sie dann auch leidlich in das Coulomb'sche Gesetz einzwängen kann.

Mir ist in den letzten Tagen eine Umformung der Gleichungen S. 62 Komp. II aufgefallen, die vielleicht noch nicht bekannt ist und möglicherweise solch einen Anschluß fördert. Man kann nämlich $\Xi$ zerlegen in \begin{math} \Xi_1 = \varrho' \X, \end{math} - unter $\varrho'$ die freie Dichte verstanden, und in \begin{math} \Xi_2 = -(\frac{\partial A_x}{\partial x} + \frac{\partial A_y}{\partial y} + \frac{\partial A_z}{\partial z}), \end{math} wobei \begin{math} -A_x = \frac{\mathfrak{e}}{2}(X^2 - Y^2 - Z^2), \quad -A_y = -\mathfrak{e}XY, \cdots \end{math} und $\mathfrak{e}$ die Electrisirungszahl ist. /3/ Dies gestattet die Einführung der dielectrischen Momente $\alpha = \mathfrak{e} X, \beta = \mathfrak{e} Y, \gamma = \mathfrak{e} Z$, die ja im Potential eines Dielectricums direct auftreten und daher als für seinen Zustand besonders characteristisch gelten können. Sollten sich nun nicht die $A_x,$ ... bei irgend einer Vorstellung über den Mechanismus der dielectrischen Erregung in den obigen Formen direct ableiten lassen. Von Rechtswegen müßte die Electronentheorie das leisten! -

Ihre Bemerkungen über die Hertz'sche Härte interessiren mich sehr. Ich habe mich für die Hertz'sche bestechende Definition /4/ nie erwärmen können. Eine Festigkeit unter complicirtester Inanspruchnahme als physikalische Konstante einzuführen, wo wir über die Elemente der Festigkeitslehre noch ringen, scheint mir verfrüht, und ich habe bisher die von Auerbach aufgedeckten Schwierigkeiten stets auf das willkürlich eingeführte Elementargesetz der Festigkeit zurückgeführt. Ihre neuen Einwände bestärken mich in meinem Gefühl der Hertz'schen Definition gegenüber.- Ich meine übrigens, man sollte für "Härte" eine solche Definition wählen welche die berühmten Experimente über Abhängigkeit der (Ritz-)Härte einer Kristallfläche von der Richtung auch derartig bei Seite schiebt, wie die H.'sche es thut.

Verzeihen Sie das eilige Schreiben! Ich bin mitten in der Arbeit!

Mit bestem Gruß
Ihr W. Voigt.