[Königsberg, zwischen 21. September und 2. November 1899]
Kbg, Tragh. Pulverstr. 28/29
Lieber Sommerfeld,
Mügge hat, ehe er Ihnen schrieb, ausführlich mit mir gesprochen. Er sagte, er sei zu unmathematisch, und es gäbe Leute, die mathematischer seien; es gäbe insbesondere solche, die von der Math.[ematik] zur Min.[eralogie] gekommen seien, wie Liebisch und Hecht. Er sei von der Min. zur Math. gekommen, verstehe aber immer noch wenig davon. Die anderen seien die besseren. Hierin mußte ich ihm theoretisch Recht geben. Wir hatten uns überhaupt die Sache so gedacht, daß ich selbst die Systematik und Structur, der Mineraloge dagegen die Krystal[l]berechnung, etc. etc. übernähme. Gerade für die Krystallberechnung empfahl er Hecht als denjenigen, der am geeignetsten sei, den mathematischen Gehalt dieses Gebietes darzustellen, und der sogar auch allgemeinere Formeln und Ansätze dieser /2/ Art in seinem Buch aufgestellt habe. Mügge meinte, er selbst habe sich die Rechnungsresultate und -methoden allerdings angeeignet, aber sei doch nicht im Stande, den spezifisch mathematischen Gehalt herauszuanalysiren. Das ist ja sachlich wahrscheinlich zutreffend, und wenn Sie einen Mann à la Liebisch oder Hecht finden, so ist das für die Encycl. wohl vorzuziehen. Ich habe Ihren an Hecht gerügten Mangel meinerseits sofort als etwas mögliches in die Erörterung gezogen und auch betont, daß der betreffende auch ein guter Redakteur sein müßte. Mügge schien aber in dieser Hinsicht nicht ganz Ihrer Meinung* zu sein.
Von allen den erwähnten Möglichkeiten 1, 2, 3, 4 Ihres Briefes scheint mir 4 ziemlich ausgeschlossen (Groth'sche Schüler), obwohl ich Mügge gegenüber den Namen Blasius (vgl. Poggendorff's Annalen, geometrische Krystallfragen) selbst in die Debatte warf. Blasius giebt dort eine Aus/3/schlachtung der synthet. Geometrie für die Krystalltheorie, da ja bei Deform. alles affin bleibt etc. Ueber die Möglichkeit 3 (Liebisch) habe ich kein Urteil, ebensowenig über 2 (Hecht), wenigstens was die Personen betrifft, daß ich eine derartige Combination sachlich für die beste halte, habe ich schon gesagt. Was 1 betrifft (Mügge) so würde, soweit ich sehe, Mügge, falls alles andere als untunlich scheiterte, gewiß seine Hilfe darbieten. Was nun aber die Möglichkeit 5 betrifft, so haben wir hier in Kbg auch davon schon gesprochen. Frankreich u Italien sind die Länder, wo der Mineraloge von Beruf auch mathematisch erzogen wird, vergleichen Sie nur ein Buch, wie dasjenige Mallards. In Frankreich giebt es Curie, der sicher gut wäre (es giebt übrigens ihrer zwei, den richtigen weiß ich im Augenblick nicht). In Italien publicirt jetzt Viola viel /4/ über mathematische Fragen der Krystallographie, freilich muß ich hinter ihn ein Fragezeichen machen. Aber so ein Mann wie Curie wäre ausgezeichnet. Curie selbst ist nun wohl schon älterer Herr, doch giebt es dort am Ende jüngere Kräfte, die ebenso empfehlenswert wären. Ich meine, man sollte jedenfalls darüber sich erst einmal orientieren.
Was mich selbst betrifft, so bleibt es natürlich dabei, daß ich die Systematik und Structur vollständig höchsteigen bearbeite. Dagegen meinen Sie doch wohl kaum, daß ich bei der andern Hälfte assistire, ich habe ja davon so gut wie gar keinen Schimmer, und selbst über die Dinge, falls der Artikel etwa vorliegt, redlich zu urteilen, sind Sie viel mehr in der Lage wie ich. Aber trotzdem will ich an diesem Urteil gern teilnehmen.
Mit Mügge habe ich inzwischen nicht wieder gesprochen. Ich tue es aber gern, sobald Sie mir schreiben, daß Sie nach wie vor am liebsten an der Lösung 1 (Mügge u. ich) festhalten. Sonst heute nun viele herzl. Grüße von Ihrem
A. Schoenflies
Gruß an die family, auch von der meinigen.
*natürlich bezüglich Hecht