Leiden, 6. Juni 1916.
Huize ter wetering
Haagweg
Hochverehrter Herr Kollege,
Als Ihr Brief vom 18. Mai eintraf, war ich eben im Begriff, an Sie zu schreiben um, nun die diesseitigen Sendungen noch ausbleiben, Ihnen wenigstens ein Lebenszeichen zukommen zu lassen und Ihnen einen freundlichen Gruß zu schicken.
Was die Communications betrifft, dieselben sind, weil der Krieg so schwer auf uns lastet, anfangs gar nicht mehr ins Ausland geschickt. Ich habe mich sogar in der ersten Zeit auf die Mitteilung unserer Arbeiten in der Akademie beschränken müssen, erst seit einiger Zeit ist dieses Stadium überwunden und ist die Publication der Communications wieder in Gang gekommen. Es werden jetzt die erscheinenden Nummern den referirenden Zeitschriften im Ausland zugeschickt. Jeder im Ausland, der persönlich an einer unserer Arbeiten interessiert ist, erhält auf Anfrage sofort die betreffende Nummer der Communications zugeschickt.
Was Herrn Keesom betrifft, so würde der/2/selbe es sich eine hohe Ehre rechnen, einen Ruf nach Deutschland zu erhalten, zumal wenn derselbe von Ihnen veranlasst wäre, er würde bei einigermassen annehmbaren Bedingungen dem Ruf gewiss sehr gerne folgen. Einen Ruf von deutscher Seite, um jetzt an der belgischen Universität Gent vlämische Vorlesungen zu halten, würde er aber zu seinem Bedauern ablehnen müßen, weil die Belgen, wie aus der bekannten Schrift der Vormänner der Vlamingen hervorgeht, wünschen, dass die bezweckten Vorlesungen nicht gehalten werden.
Aus demselben Grund als Herr Keesom werden hier nach meiner Meinung alle die für Physik oder Mathematik in Betracht kommen, ablehnen. Ich kann - weil Sie auch die Meinung von Kolleg Lorentz zu kennen, wünschen - noch hinzufügen, dass dieser von derselben Ansicht ist.
Ich glaube, hochverehrter Freund, dass es Sie enttäuschen würde, wenn ich mich auf obige sachliche Mitteilungen /3/ über die jetzige Frage beschränkte. Denn es geht aus demselben hervor, dass wir hier der Frage ganz anders gegenüberstehen wie Sie in Ihrem Brief. Bei unserem langjährigen freundschaftlichen Verkehr erwarten Sie darüber gewiss ein Wort der näheren Erörterung. Es ist aber sehr schwer für uns, über Fragen, in welchen politische Betrachtungen mitspielen, an unsere Freunde in den kriegführenden Ländern zu schreiben. Schreiben ist ganz was anderes als sich mündlich unterhalten. Dann kann man gleich Misverständnisse heben und Extrapolationen vorbeugen. Seien Sie versichert, dass meine Frau und ich Sie recht gerne bei uns gesehen hätten, wenn Sie gekommen wären, um über diese Sachen zu sprechen. Nun mir aber nur der briefliche Verkehr zur Verfügung steht, bitte ich dass Ihre Freundschaft mir in der gewünschten Beziehung zur Hülfe kommt. Zu der oben angegebenen Meinung über die angeregte Frage kommt man, wie Ihnen klar sein wird, wenn man berücksichtigt, dass eine Universität ein Stück Volksseele ist.
Die meisten Vlamingen betrachten dann auch die Vervlämung von einer /4/ der belgischen Universitäten (Gent) als eine nationale belgische Frage, die sie mit eigener Kraft lösen wollen, ohne dass ein anderes Volk sich darin mischt. Sie haben diesen Streit in der angegebenen Weise schon lange geführt, denn bald nachdem Sie sich mit Gewalt von Holland abgetrennt und die französische Sprache als offizielle Sprache angenommen haben, sind Sie schon angefangen für die Gleichberechtigung Ihrer Sprache zu kämpfen. Dieser Streit ist von den Holländern natürlich mit großer Sympathie gefolgt. Mit Freude sahen wir, dass die Vlamingen dem Ziel schon nahe gekommen waren und man versteht hier die Auffassung, welche die Vlamingen über die Vervlämung der Universität Gent haben, recht gut. Nach dieser Auffassung der Vlamingen können die Vlamingen eine vlämische Universität nur annehmen, wenn sie dieselbe auf dem Wege der belgischen Gesetzgebung erhalten. Ich glaube, man versteht in Deutschland nicht gut, was der wirkliche Standpunkt der Vlamingen ist. Sie wünschen wohl einmal zur Vervlämung /5/ von einer der belgischen Universitäten und zwar von Gent, zu gelangen, wollen aber ihre Angelegenheiten selbst als Belgen regeln und nicht durch einen Fremden regeln lassen. Dass nun die hiesige Stellung zu der Frage der jetzt bezweckten vlämischen Vorlesungen nicht anders sein kann als sie nach dem im Anfang mitgeteilten ist, und dass diese Stellung ausschliesslich von allgemein menschlichen Ueberlegungen angewiesen wird, davon werden Sie überzeugt sein, sobald Sie sich in unsere Lage eindenken.
Wir stehen ehrlich neutral zwischen unseren Freunden auf beiden Seiten.
Erstens sind wir als Volk schon neutral. Es ist eine schreckliche Zeit, alle Kulturwerte werden bedroht und es kann sich bei uns, ganz anders wie bei größeren Völkern, die nur teilweise geschadet werden können, um Sein oder Nichtsein handeln. Wir achten die freie Entwicklung unserer kulturellen Individualität mit der jeder anderen gleichberechtigt, wir achten sie erforderlich im Interesse der Menschheit und sie ist unmöglich ohne vollständige /6/ politische, economische und intellectuelle Unabhängigkeit. Wir haben unsere Rechte nach beiden Seiten zu wahren. Eine ehrliche Neutralität zu bewahren ist also die erste Pflicht, die unsere Vaterlandsliebe uns auferlegt.
Wir haben uns daneben als Aufgabe gestellt, die Menschenliebe, die selber neutral ist, in vollem Umfang unseres Vermögens zu üben, und wir wollen uns ausschließlich vom allgemein Menschlichen in unserm Mitfühlen und Urteilen leiten lassen.
Die holländischen Gelehrten zählen Gelehrten von beiden Parteien zu ihren besten Freunden. Wir haben solche auf deutscher Seite und teilen von Herzen in Ihren Sorgen. Aber wir haben ebenfalls solche auf der anderen Seite. Wenn wir für unsere Freunde auf der einen Seite unser Herz öffnen, werden diese nicht verlangen, dass wir für die anderen weniger fühlen. Wenn wir uns den Freunden auf der einen Seite gegenüber aussprechen, so kann das nicht anders als so, dass die auf der anderen Seite es anhören können ohne an unserer Freundschaft zu zweifeln. Und wenn wir ohne Ansehen der Person für /7/ Freiheit und Gerechtigkeit bei unseren Freunden eintreten, so tun wir nun, was die Männer der Wissenschaft sich immer zur Ehre und Pflicht gestellt haben.
Zur Sicherheit des Urteils in die jetzige Frage trägt gewiss bei, dass die Freiheitsliebe ein erster Charakterzug unseres Volkes ist. Das zeigen wir auch jetzt wieder, nun wir uns ja aufs äusserste rüsten, um unsere Unabhängigkeit, wenn es, was Gott verhüte, nötig würde, bis auf den letzten Tropfen Blutes zu verteidigen. Was ist natürlicher als dass wir das Recht eines Volkes um frei über den Charakter seiner Universitäten zu verfügen, als etwas Selbstverständliches betrachten.
Dürften doch die deutschen Gelehrten auch wie wir der Frage von der rein menschlichen Seite nähertreten. Ich sehe nicht ein, weshalb dieselben nicht auch unsere Auffassung zu der ihrigen machen und dieselbe verteidigen verteidigen würden. Es gilt hier ja auch ein Interesse der Wissenschaft. Jedenfalls folgt aus unserer Lage, die ich gemeint habe Ihnen ausführlich schildern zu müssen, dass Holländer nicht in Gent vlämische Vorlesungen halten dürfen, welche die Vlamingen wünschen, dass nicht gehalten werden.
Schliesslich haben wir noch besonders zu /8/ berücksichtigen, dass unsere und die vlämische Sprache dieselbe ist. Wir Holländer achten unsere Sprache enge mit unserer Freiheit verbunden. Ich glaube nicht, dass einer von uns dieselbe gebrauchen würde, wo dies die Freiheitsliebe eines Volkes, welche dieselbe Sprache spricht, verletzen könnte.
Herr Keesom dankt bestens für die freundliche Beurteilung seines Wirkens und sendet herzliche Grüße. Ich selber schliesse mich diesem Dank an. Meine Frau und ich denken mit inniger Teilnahme an all dem Leid von dem Sie umringt sein werden, wir hoffen innig, dass Ihnen und den Ihrigen persönliches Leid im engeren Kreis gespart wird und grüßen recht herzlich. Glauben Sie mich hochachtungsvoll
Ihr sehr ergebener
Kammerlingh Onnes