Zürich, den 22. Nov. 1898

Lieber Sommerfeld!

Franz Meyer schreibt mir, Sie hätten ihm geschrieben, der Titel von Heft I sei nicht conform den Düsseldorfer Verhandlungen. Es würde mir sehr leid sein wenn es auch nur den Anschein hätte, als wollte ich Sie und Schönflies beeinträchtigen. Sie dürfen überzeugt sein, dass mir nichts ferner liegt.

Was die vorliegende Sache selbst betrifft, so steht sie so: die Düsseldorfer Verabredungen habe ich noch Ende September von Ansbach aus /2/ an Dyck geschickt, behufs Bestätigung durch die Commission. Der hat sie erst vier Wochen liegen lassen bis er sie nicht mehr fand und dann eine neue Reinschrift gerade in den ersten Semestertagen von mir haben wollen, wo es mir nicht möglich war sie umgehend zu machen. So hat sich dies verzögert; vor Eintreffen der Zustimmung der Commission glaubte ich mich nicht autorisirt, an dem vertragsgemäss festgestellten Titelblatt zu ändern. Sobald die Zustimmung der Commission da ist, werden auch die Titelblätter der Heftumschläge geändert. Ich hoffe also, dass Sie sich durch diesen Zwischenfall die Lust zu weiterer Beteiligung an dem Unternehmen nicht verderben lassen.

Der Artikel über die Reihenentwicklungen geht langsam vorwärts; ich stecke noch /3/ tief im vorigen Jahrhundert. Riemann's Darstellung gibt nur einen kleinen Ausschnitt und den nicht überall richtig; mit Cantor ist nicht viel anzufangen. Der Begriff der einfachen Schwingung hat sich zunächst am zusammengesetzten Pendel, bezw. an dessen Grenzfall, der aufgehängten schweren Kette, entwickelt. Was man Ohm'sches Prinzip nennt, steht schon ganz allgemein bei Daniel Bernoulli; u.s.w.

Zu Ihrer Stabilitätsdefinition im Kreiselbuch hätte ich mancherlei zu sagen; aber ich müsste ein paar Tage Zeit haben, um es klar und praecise formuliren zu können, und die habe ich jetzt nicht. Mir scheint, dass bei Ihrer Definition die Stabilität Regel, die Labilität Ausnahme ist; d. h. die Labilität ist durch Gleichungen zwischen den Integrations/4/constanten definirt, die Stabilität tritt ein, sobald keine dieser Gleichungen erfüllt ist. Labilität wäre demnach "unendlich unwahrscheinlich", wenn man nicht von vorneherein das Gebiet der "möglichen Fälle" einschränkt. Ich möchte fast vermuten, dass alle Kreiselbewegungen im Sinne Ihrer Definition stabil sind, bis auf die, deren Labilität Sie nachgewiesen haben.

Mit den besten Grüßen von Haus zu Haus

Ihr
H. Burkhardt

Kreuzplatz 1