Zürich, den 16. Dez. 1898

Lieber Sommerfeld!

Besten Dank für Ihren Brief vom 25 vor. M.- Auf das vor. Jahrh. wäre ich nicht zurückgegangen, wenn ich nicht geglaubt hätte, es rasch absolviren zu können. Nun ist es eine ziemliche Literatur. Freilich viel kommt nicht dabei heraus: Euler, d'Alembert, Daniel Bernoulli wiederholen immer und immer wieder ihre Darstellung, aber jeder bleibt auf seinem Standpunkt. Das merkwürdigste was ich gefunden habe ist eine Arbeit von Euler aus dem J. 1750, in der er sich 1.) die Aufgabe stellt, die allgemeinste Function $y = f(x)$ zu finden, für die $f(x+1) - f(x) = 0$ ist, diese auf die Integration der linearen Diff.-Glchg. hoher O.: \begin{equation*} y' + \frac{1}{2!} y'' + \frac{1}{3!} y''' + \dots = 0 \end{equation*} zurückführt und findet dass ihr durch eine sin-cos-/2/Reihe genügt wird. 2) verlangt er $f(x)$ so zu bestimmen, dass $f(x+1) - (f(x) = x$ (geg. Fct) wird u. findet durch Integration der entsprechenden Glchg. mit zweitem Glied: \begin{equation*} f(x) = \sum_k \left\{ 2 \cos 2 k \pi x \int x \cos 2 k \pi x dx + 2 \sin 2 k \pi x \int x \sin 2 k \pi dx \right\} \end{equation*} also die Fourier'sche Formel, abgesehen davon, dass als obere Grenze x zu verstehen ist. Würde man erst $x = $ [0,] dann $x = 1$ setzen, so würde man genau Fourier's Formel erhalten. Aber ist die Beweismethode nicht haarsträubend?- Merkwürdig dass nachher in der Discussion über die Saiten keiner der Streitenden hierauf zurückgegriffen hat.

Der Satz: dass ein System soviele einfache kl. Schwingungen hat als Freiheitsgrade, hat sich übrigens schon vorher am Problem des mit mehreren Gewichten besetzten Pendelfadens entwickelt. Beim Grenzübergang zu $n = \infty$ hat Dan. Bern. schon 1732 die Bessel'sche Function $J_0$ und die physikalische Überzeugung von ihren $\infty$ vielen reellen Wurzeln.

Dass bei Dini auch von den allg. Sturm-Liouvilleschen Reihen die Rede ist, weiss ich; doch kann ich /3/ nicht sagen kann, wie eng, bezw. wie weit bei ihm die V[orau]s[setzun]gen sind.

Was die Stabilitätsdefinition betrifft, so freut es mich zu sehen, dass wir übereinstimmen. Ich habe wol [sic] auch gedacht, folgende Definition zu geben: Seien $\xi$, $\eta$ Werte der Integrationskonstanten; $x = \varphi(t)$, $y = \psi(t)$ die zugeh. Bewegungsglchgen. Diese Bewegung heisst stabil für alle Zeit, wenn es möglich ist, die zu jedem hinlänglich wenig variirten Wertsystem $\xi + d\xi$, $\eta + d\eta$ der $\xi \eta$ gehörenden Bewegungsglchgen auf die Form zu bringen: \begin{eqnarray*} x = (1 + \kappa) \varphi \left[(1 + \mu) t \right]
y = (1 + \lambda) \psi \left[(1 + \mu) t \right] \end{eqnarray*} wo $\kappa$, $\lambda$, $\mu$ Functionen der $\xi$, $\eta$, $d\xi$, $d\eta$ und der Zeit t sind, die mit $d\xi$, $d\eta$ gleichmässig für jedes t nach Null convergiren.- Mit einer "reducirten Zeit" $(1 + \mu) t$ arbeitet Gyldén häufig.- Dass man $(1 + \kappa) \varphi$ und nicht $\varphi + \kappa$ schreibt, hat den Zweck Fälle wie die Galilei'sche Trägheitsbewegung einzuschliessen.

Sehr freuen wird es uns, wenn Sie Ihre Absicht uns zu überfallen verwirklichen.

Mit vielen Grüssen von Haus zu Haus

Ihr
H. Burkhardt