München, 24. April 1902.

Hochgeehrter Herr College!

Für Ihre ausführlichen Darlegungen bin ich Ihnen vielen Dank schuldig. Jedenfalls werde ich davon s.Zt. mit großem Nutzen Gebrauch machen können und zwar auch dort, wo ich selbst sachlich im Rechte zu sein glaube. Denn es ist mir gar nicht zweifelhaft, daß zum mindesten meine Darstellung mangelhaft sein muß, wo Sie Herrn Heun beistimmen, insofern als ich das, was ich wirklich sagen wollte, nicht hinlänglich scharf zum Ausdruck brachte.

Zum Princip der virtuellen Arbeiten bemerke ich, daß ich meine Aussage nach wie vor für richtig halten muß (wenn sie auch offenbar nach dem vorher Bemerkten nicht hinlänglich deutlich gewesen sein kann). Denn wenn ich sage, daß für endliche Verschiebungen die Summe der Arbeiten für den Gleichgewichtsfall ebenfalls /2/ stets gleich Null sein muß, so meine ich damit, daß während der ganzen endlichen Verschiebung die Kräfte - wie sie sich sonst währenddessen auch ändern mögen - jederzeit ein Gleichgewichtssystem bilden müssen. [Zusatz von AS:] sehr gut. Astat. Gleichgew.] Bei dem "Bild am Nagel", das Sie anführen, trifft diese Voraussetzung natürlich nicht zu.

Ich lege Werth darauf, den Satz auch für endliche Verschiebungen auszusprechen, weil ja bei einfachen Hebeapparaten u. dgl. das Gleichgewicht der angreifenden Kräfte sehr oft für endliche Verschiebungen dauernd besteht. Jedenfalls werde ich aber in Zukunft durch eine geringe Änderung des Wortlauts Sorge dafür tragen, daß der Sinn der Aussage in Zukunft gegen Mißverständnisse sicher gestellt ist.

Etwas mehr weichen wir offenbar in einem anderen Punkt voneinander ab. In der mathematischen Mechanik handelt man hauptsächlich von Systemen, die gewissen Bedingungen unterworfen sind und läßt nur solche Verrückungen zu, die mit den Systembedingungen verträglich sind. Demgegenüber ziehe ich es persönlich vor, /3/ mir jeden einzelnen Körper des Systems besonders anzusehen u. ihm auch solche Verrückungen zu gestatten, die den Systembedingungen widersprechen. Das ist natürlich möglich, sobald man hierbei nur auch auf die Arbeit der Zwangskräfte achtet. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wird man freilich im einzelnen Falle die Verrückungen gewöhnlich so wählen, daß die Arbeit der Zwangskräfte herausfällt; von vornherein auf die Möglichkeit zu verzichten, auch andere Verrückungen zuzulassen, halte ich aber nicht für angezeigt. [Zusatz von AS:] sehr gut] Im Übrigen schadet es ja nichts, wenn der Standpunkt der einzelnen Autoren etwas verschieden ist; sachlich kann dadurch jedenfalls nichts geändert werden.

Was die Centrifugalkraft anbelangt, so scheinen Sie ja im Wesentlichen mit mir übereinzustimmen. Daß ich bei dem Eisenbahnwagen in der Curve von einer "realen" oder "physikalisch nachweisbaren" Centrifugalkraft, die an den Schienen angreift und einer "fingirten" rede, die man sich an dem Wagen hinzudenkt, woran Sie Anstoß nehmen, kommt nur auf eine Ansicht über die Zweckmäßigkeit /4/ des Wortgebrauchs hinaus. Denn in der Sache selbst sind Sie offenbar mit mir einig. dagegen ist Heun ganz offenbar im Irrthum, wenn er sagt, die fingirte Centrifugalkraft sei mit der physikalisch existirenden identisch. Das ist durchaus nicht richtig, da die eine am Wagen, die andere an den Schienen angreift. In dieser Sache fühle ich auch nicht den geringsten Zweifel, daß meine Darstellung das Richtige trifft und ich könnte mir ebensowenig vorstellen, daß daran etwas falsch sei, als etwa an dem Pythagoräischen Lehrsatze. Erklärlich wird mir der Widerspruch nur einigermaßen dadurch, daß Heun das ganze System im Auge hat, während ich einen jeden Körper einzeln ansehe.

Hinsichtlich des d'A. Princips bemerke ich, daß die Gleichung $\sum K + \sum J =0$ freilich nicht das d'A. Princip ausdrückt, daß sie das aber auch gar nicht soll. Dieses ist schon vorher (auf den S. 107 und 108) ausgesprochen und die in Rede stehende Gleichung wird nur nebenher angeführt, um an die Lehre von Band I anzuknüpfen. Auf S. 110 bespreche ich dann eine besondere Verrückung, bei der sich der Punkthaufen /5/ als starrer Körper bewegen soll. Dabei ist natürlich in erster Linie an die Dynamik des einzelnen starren Körpers gedacht. Nach dem, was ich Eingangs erwähnte, behalte ich mir aber dabei auch Verrückungen einzelner Theile eines Systems vor, die den Systembedingungen widersprechen, oder auch das System als Ganzes. Der andere Fall kommt dann auf S. 111 zur Sprache.

Sachlich werde ich an diesem Paragraphen in Zukunft wohl schwerlich etwas ändern. Dagegen werde ich mir eine Änderung des Wortlauts s. Zt. auf Grund Ihrer Ausführungen jedenfalls sehr sorgfältig überlegen.

Daß die Grübler'sche Schleifsteinberechnung vollkommen ausreicht, scheint mir durch die versuche mit Glasplatten, bei denen der Spannungszustand auf optischem Wege (unter Benutzung der Doppelbrechung des gespannten Glases) ermittelt wird, hinreichend sichergestellt. Ich habe Versuche dieser Art zwar selbst noch nicht ausgeführt. Wenn Sie sich aber einmal die Arbeit von Mesnager in den Ann. des Ponts et Chaussées, Memoires N. 50, 1901 ansehen wollen, in der ältere Arbeiten besprochen und neuere mitgetheilt werden, dürften Sie von Ihrem Zweifel zurückkommen, /6/ sofern Sie dabei nur im Auge behalten, daß der Schleifstein immerhin eine dünne Scheibe bildet.

Über Heun mag ich mich nicht weiter äußern und nur bemerken, daß ich auf sein Urtheil nicht viel Gewicht zu legen vermag. Eine Zustimmung von Ihrer Seite zu seinen Äußerungen erscheint mir ungleich gewichtiger, als was er selbst vorbringt.

Ihre Untersuchungen über das Pendeln werde ich mit großem Interesse erwarten. Ich muß allerdings gestehen, daß ich mir einstweilen nicht recht vorstellen kann, wie man die Wirkung des Regulators außer Acht lassen kann, ohne das Problem von Grund aus zu ändern. Meiner Meinung nach müßte man zum wenigsten irgend eine plausible vereinfachende Annahme über den Regulator machen (z. B. unendlich große Geschwindigkeit o. dgl.) derart, daß es keine Schwierigkeiten für die weitere Behandlung mehr bringt. Oder nehmen Sie anstatt dessen an, daß der Regulator überhaupt fehlt, der Füllungsgrad der /7/ Maschine also constant eingestellt ist? Auf diese Art möchte es ja vielleicht gehen; nur lehrt der Augenschein, daß bei den pendelnden Bewegungen, um die es sich hier handelt, die wechselnden Ausschläge des Regulators gerade das Auffälligste an dem ganzen Vorgange bilden. Ich glaube daher kaum, daß Sie zu einem brauchbaren Ergebnisse gelangen können, ohne sich auf irgend eine Weise - wenn auch vielleicht unter Einführung weitgehender Vereinfachungen - mit dem Regulator abzufinden. Daß die Elektrotechniker nicht merkten, daß dies nöthig sei, ist zwar auffällig genug, erklärt sich aber sehr einfach daraus, daß der Elektrotechniker als richtiger Specialist nur den elektrischen Teil ins Auge faßte, während ihm die damit gekoppelte Dampfmaschine nur als ein fremdes Ding vorschwebte, das ihn nicht weiter kümmerte, als daß es ihm die mechanische Energie unter näher bestimmten Umständen lieferte. Daß die Dampfmaschine selbst auf die elektrischen Vorgänge reagieren könnte, kam ihm nicht weiter in den Sinn.

Daß aber die Berücksichtigung der veränderlichen Triebkraft unter - zum mindesten näherungsweise - beibehaltener Regulatorwirkung die Lösung sehr verbessern /8/ könnte, erscheint mir freilich sehr wahrscheinlich.

Für die mir in Aussicht gestellte Zusendung Ihrer Arbeit über Bremswirkung danke ich schon zum Voraus verbindlichst. Sie wird mich um so mehr interessiren, als ich auch einen Antrag über die Vornahme von Bremsversuchen bei dem Curatorium der Jubiläumsstiftung eingebracht habe. Es mag wohl sein, daß Reynolds mit der Regulation Recht hat. Sicher scheint mir dies indessen doch noch nicht zu sein. Ich habe bei manchen meiner Versuche auch schon unter gewissen Umständen ähnliche sehr niedrige Reibungscoeff. bei sehr hohen spezifischen Flächendrucken gefunden. Die Reibungsfrage ist offenbar experimentell noch längst nicht hinreichend erschöpft.

Nochmals verbindlichst dankend mit besten Grüßen
Ihr ganz ergebener
A. Föppl.