Leipzig. 22. Mai. 1903.
Hochgeehrter Herr Kollege!
Meine Karte werden Sie erhalten haben, und ich kann Ihnen in der That nur dankbar dafür sein, daß Sie mir in die Correcturbogen, bevor sie zum Druck gelangen, Einsicht gestatten.
Ich habe die beiden Bogen 1. und 2. durchgesehen, und möchte mir nun erlauben, Sie auf einige (allerdings nur unwesentliche) Puncte aufmerksam zu machen.
Seite 11. Jene Ampère'schen Fundamentalversuch sind doch wohl (ihrer Natur nach) ziemlich unsicher. Ja es ist sogar von einigen Physikern Zweifel darüber geäußert, ob dieselben von Ampère wirklich angestellt seien; hierüber enthalte ich mich des Urtheils. Aber ihre Unsicherheit ist wohl schwerlich in Abrede zu stellen.
/2/ Demgemäß mein Vorschlag, jene drei Worte (jene etwas unsicheren) in Parenthese einzuschalten.
Seite 20. Das sogenannte Graßmannsche Gesetz rührt im
Wesen schon von Ampère her. Es ist von Ampère (an der von mir
angegebenen Stelle) durch die Formeln ausgedrückt:
\begin{eqnarray*}
A = \int \frac{y dz - z dy}{r^{n+1}} \textrm{ d.i. } \int \frac{y
dz - z dy}{r^3}
B = \textrm{ etc.}
C = \textrm{ etc.}
\end{eqnarray*}
und
\begin{eqnarray*}
X = \frac{1}{2} i i' ds' (C \cos \mu - B \cos \nu)
Y = \frac{1}{2} i i' ds' (A \cos \nu - C \cos \lambda)
Z = \frac{1}{2} i i' ds' (B \cos \lamda - A \cos \mu)
\end{eqnarray*}
Doch betrachtet Ampère dieses Gesetz als ein
abgeleitetes, secundäres Gesetz, welches nur unter
besonderen Umständen (nämlich nur dann wenn der einwirkende Strom /3/
geschlossen ist) an Stelle seines primären Gesetzes
substituirt werden könne.
Das einzige Verdienst Grassmann's besteht also darin, dieses secundäre Gesetz zum Range eines primären erhoben zu haben.
Seite 27. Druckfehler: $\delta \; \delta$.
Seite 29. Helmholtz hat solches in der That versucht; und schon in diesem Versuch sehe ich ein gewißes Verdienst. Aber der Versuch ist ihm nicht gelungen. Denn die betreffende Auseinandersetzung in seiner Schrift von 1847 sind ganz unhaltbar. Ich habe hierauf bereits vor langer Zeit hierauf aufmerksam gemacht, in den Math. Ann. Bd. 6, Seite 342-349. Später hat Se\"{y}dler (in Prag) Gleiches bemerkt. Zu Ihrer näheren Orientirung möchte ich Ihnen namentlich ein /4/ kurzes Referat von Lorberg über die Se\"{y}dler'sche Abhandlung empfehlen. Sie finden dieses Referat in dem Jahrbuch üb. d. Fortschritte der Mathematik, Bd. XVII, Jahrgang 1885, Seite 1026.
Helmhholtz hat mir damals meine Opposition sehr verdacht. Ich ärgere mich noch jetzt darüber, daß er glaubte, ich wolle ihm etwas am Zeuge flicken; während es mir doch nur allein um die Wahrheit zu tun war.
Sie werden aus jenem Lorberg'schen Referat entnehmen, daß bei den Helmholtz'schen Untersuchungen ein Hauptglied fehlt; so daß von irgendwelcher Abänderung oder Verbesserung der Helmholtz'schen Versuche wohl kaum die Rede sein kann.
Es würde aber jetzt wohl keinen Sinn mehr geben, auf diese alten /5/ Geschichten zurückzukommen. Und jedenfalls würde das nicht in die "Encyklopädie" hineingehören.
Demgemäß habe ich vorgeschlagen, statt "ausgeführt hat" zu setzen "auszuführen versucht hat";- alsdann der Wahrheit völlig entsprochen sein wird.
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Sie werden vielleicht gehört haben, daß ich vor einiger Zeit mich der Hoffnung hingab, Sie hier in Leipzig zum Collegen zu erhalten. Und ich habe deswegen mit Wiener manche Auseinandersetzung gehabt; woraus hervorging, daß unsere Ansichten über die weiteren Fortschritte der Physik sehr verschieden sind. Während mir die sorgfältige Sichtung und Verarbeitung des schon /6/ Vorhandenen (was schließlich doch nur durch einen Mathematiker geschehen kann) als besonders wichtig und nothwendig erscheint, - erblickt Wiener das Heil der Physik in einem gewißen theoretischen [Part?], der zu neuen experimentellen Untersuchungen führt.
Kurz unsere Ansichten sind so verschieden, daß von irgend welchem Ausgleich nicht die Rede sein konnte. Und ich habe daher schließlich - in Anbetracht deßen, daß Wiener, als Physiker bei der Berufung eines zweiten Physikers den Vorzug haben muß - meine eigenen Ansichten nicht weiter zu verfolgen gesucht.
Der allgemeinen Strömung nach schnellen neuen und glänzenden Entdeckungen, ist schwer Widerstand zu leisten. Es dürfte aber die Zeit kommen, wo man wieder mehr an in langsames und sicheres Arbeiten denkt.
Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr C. Neumann