Hamburg, den 15. Mai 1902
Sehr geehrter Herr Professor!
Vor Allem sage ich Ihnen meinen besten Dank für Ihr außerordentlich interessantes und ausführliches Schreiben vom 5. dss. Mts.
Zunächst möchte ich mir erlauben zu bemerken, daß mir Ihre Ansätze alle correct erscheinen, und daß auch Ihre sonstigen Bemerkungen ganz mit dem übereinstimmen was ich mir zurecht gelegt habe. Ich habe ja leider in der mathematischen Behandlung derartiger mechanischer Probleme gar keine Uebung und deshalb ist es meinerseits eine gewisse Anmaaßung wenn ich mir gestatte über Ihre Arbeiten überhaupt ein Wort zu sagen.
Ich muß mich in Ihre Auseinandersetzungen noch mehr vertiefen, sobald ich einmal eine ruhige Stunde zur Verfügung habe und ich bitte deshalb an das was ich /2/ hier noch zu sagen gedenke nicht eine strenge Kritik anzulegen, denn ich bin möglicherweise doch noch nicht ganz klar in dem was Sie mir schreiben.
Ihre Fragen kann ich Ihnen vorläufig nicht beantworten, da mein Modell nicht gestattet diese Beobachtungen zu machen von denen Sie sprechen. Sie werden sich auch mit meinem Modell niemals alle machen lassen, aber einige davon werde ich wohl nächstens durchführen können nachdem [ich] das Modell vervollkommnet habe.
Ich habe mein Modell nur zunächst zu dem Zweck machen lassen den gyroskopischen Effect anschaulich zu machen. Der Schwungring ist deshalb verhältnismäßig schwer und rotirt sehr schnell. Der Effect ist deshalb auch ganz verblüffend.
Ich bitte mir zu gestatten zu bemerken, daß mir Ihre Gleichung \begin{eqnarray*} J \frac{d^2\varphi}{dt^2} + K \frac{d\varphi}{dt} + \left(M + 2 \frac{G}{g} v^2\right) \varphi=0 \end{eqnarray*} einige Kopfschmerzen macht. Das zweite Glied in der Klammer, das also doch den gyroskopischen Effect darstellt, ist darin ebenso behandelt /3/ wie M, das aufrichtende Moment. Erstens habe ich dagegen einzuwenden, daß sich zwar der Gyroscopische Effect zwar als ein Moment m äußert, daß er aber nicht die Steifigkeit vergrößert, wie Sie sagen, sondern nur als Bremse resp. Dämpfung bei der Bewegung wirkt. Das m kann daher die Oscillationen (wenn überhaupt solche Auftreten) nur verzögern. Sie sagen in Ihrem Schreiben: "Dieses Moment (m) addirt sich nun in der Bewegungsgleichung einfach zu M (das ist das aufrichtende Moment) hinzu, so daß letztere lauten würde: \begin{eqnarray*} J \frac{d^2\varphi}{dt^2} + K \frac{d\varphi}{dt} + \left(M + 2 \frac{G}{g} v^2\right)\varphi=0 \end{eqnarray*} Ich muß einräumen, daß die Gleichung augenscheinlich richtig ist, aber ich kann noch nicht mit meiner Vorstellung der Sache folgen. Der Werth $2 \frac{G}{g} v^2\varphi$ muß nach meinem gegenwärtigen Eindruck immer das entgegengesetzte Vorzeichen von M haben, weil $2 \frac{G}{g} v^2\varphi$ immer im entgegengesetzten Sinn von M wirkt. Wenn ich mir hingegen überlege, daß $2 \frac{G}{g} v^2\varphi$ weiter nichts als eine Dämpfung bedeutet, so muß ich zugeben, daß das Vorzeichen in der Gleichung richtig ist.- Sie sehen ich schildere Ihnen ganz /4/ offen meine Schmerzen, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich als einen sehr beschränkten Menschen ansehen.
Den Werth $2 \frac{G}{g} v^2 = 7200$ Meter Tonnen hatte ich vorher auch ungefähr gefunden und ich bin stolz, daß Sie dasselbe finden. Die gyroskopische Wirkung ist eben ganz enorm. Die hierdurch bedingte Dämpfung ist größer als das aufrichtende Moment (was der elastischen Kraft bei der Schwingung entspricht) und dennoch können Schwingungen im gewöhnlichen Sinne überhaupt nicht auftreten und das ist ja gerade das was wir wollen. Das Modell hat mir das schon längst bewiesen. Ich habe also folgendes Experiment gemacht, das gewissermaßen einen statischen Charakter hat: Ich habe an den kleinen Mast des Modells seitlich ein Gewicht angehängt, das das Modell [Skizze] beinahe bis zum Volllaufen seitlich neigte, etwa 20 Grad, wenn der Schwungring in Ruhe war. Sobald nun das Gewicht entfernt wurde und das Schiff seine aufrechte Lage einnahm, und wenn /5/ bei genau aufrecht stehender Achse des Kreisels, dieser mit Hilfe eines kleinen electrischen Motor in Bewegung gesetzt wird (etwa 1000 bis 1200 Umdrehungen pro Minute) so bleibt so zusagen das Modell ganz ruhig aufrecht stehen, wenn man auch das erwähnte Gewicht wieder seitlich anhängt. Ganz langsam, so zusagen kaum für das Auge wahrnehmbar, neigt sich nun das Modell, der Kreisel neigt dabei seine Drehachse langsam in der Symmetrie-Ebene des Schiffes. Nach einer langen Zeit etwa einer halben Minute oder noch länger neigt sich das Modell rascher und die Kreiselachse legt sich nahezu horizontal.- Das ist also Alles in bester Ordnung und ist garnicht anders zu erwarten.- Es ist mir auf keine Weise gelungen bei rotirendem Kreisel Rollbewegungen des Modelles hervorzubringen. Die durch die gyroskopische Wirkung hervorgebrachte Dämpfung ist eben größer, als das aufrichtende Moment; es können gar keine Schwingungen entstehen. /6/ Wenn der Kreisel kleiner ist oder wenn er sehr langsam läuft, so wird es natürlich denkbar sein, daß Schwingungen eintreten und es wird natürlich interessant sein zunächst die Verhältnisse zu bestimmen wo die Grenze ist, d.h. unter welchen Bedingungen Schwingungen, trotz rotirendem Kreisel, eintreten. Ich denke mir die Sache so:
Um ein Schiff mit ruhendem Kreisel, von der aufrechten Lage bis zu einem bestimmten Winkel zu neigen gehört eine gewisse mechanische Arbeit (man nennt dies die dynamische Stabilität). Um den rotirenden Kreisel um den gleichen Winkel von der aufrechten Lage angefangen zu neigen, gehört auch eine bestimmte Arbeit. Da wo diese beiden Arbeiten einander gleich sind muß nach meiner Idee die Grenze liegen. Es kommt nur noch darauf an ob das auch bei sehr kleinen Neigungswinkeln noch zutrifft.
Der Umstand, daß die Kreiselachse nicht so bereitwillig ist wieder in die aufrechte Lage zurück zukehren, wenn das Schiff die entgegengesetzte Rollbewegung macht, ist allerdings recht unangenehm. Ich glaube ich habe jedoch ein /7/ Mittel gefunden um über diese Schwierigkeit hinweg zukommen.
Ich komme allmählig immer mehr zu der Ansicht, daß sich der Schwungring bei manchen Schiffen doch anwenden lassen würde. Es ist deshalb von Wichtigkeit zu wissen, ob dieser Vorschlag schon einmal veröffentlicht worden ist. Da Sie doch jedenfalls die "Kreisel-Litteratur" sehr genau kennen, so können Sie mir vielleicht darüber Auskunft geben. Es wird auch gut sein, wenn wir vorläufig nichts über diese Untersuchungen in die Oeffentlichkeit gelangen lassen. Ob man ein Patent nehmen soll und wie es gefaßt werden muß kann ich vor der Hand nicht sagen; es ist aber unter Umständen viel mit der Sache zu verdienen.
Ich werde meine Versuche noch fortsetzen und werde suchen Ihre Fragen zu beantworten. Wenn mein Modell dann ganz nach Wunsch arbeitet werden wir einmal zusammen kommen müssen.
Mit den besten Grüßen
Ihr ganz ergebener
Otto Schlick.
/8/ [Antwort: 18. V.
Bei dem Modellversuch ist $\varphi = \frac{Gl. \varphi_0}{M + m - Gl}$ wo m groß gegen M und $M > Gl$ ist. [Skizze] Nimmt m ab, so nimmt $\varphi$ zu. Daher allmähliche Senkung der Kreiselaxe nach Maassgabe der Figur: [Skizze] Die Schwingungsdauer ist jetzt viel kürzer wie ohne Kreisel. Die Zeitdauer der Selbstvernichtung hat nichts damit zu thun. Die dauernde einseitige Belastung des Versuches ist schlimmer wie die wechselnde durch Rollen. Bei einer Änderung der Maßenverteilung auf dem Schiff würde einseitige Belastung stattfinden. Deshalb [???] [Skizze]
Ähnlichkeitsgesetz: Es kommt auf $\frac{m}{J}$ an. Dies soll am Modell u. in Wirklichkeit gleich sein. Z.B. Modell = $\frac{1}{100}$ Schiff. $J_{\mbox{\footnotesize Mod}}=(\frac{1}{100})^5 J_{\mbox{\footnotesize Schiff}}$. Dann soll $m_{\mbox{\footnotesize Mod}} = (\frac{1}{100})^5 m_{\mbox{\footnotesize Schiff}}$ sein. Macht man $m_{\mbox{\footnotesize Schiff}} = $7200 Meter-Tonnen, so müßte $m_{\mbox{\footnotesize Mod}}=\frac{7,2}{10\;000}$ Meter kg sein. Ist Gewicht des Schwungringes $G = 1$ kg, so folgt $v^2=\frac{36}{10\;000}, v=\frac{6 \mbox{\footnotesize cm}}{\mbox{\footnotesize sec}}$. ]