Aachen 26. VII. [1900]

Lieber Runge!

Bei der Grösse der Moleküle habe ich mich an Thomson und Tait gehalten, 2. Edition, Part II, Appendix F. pag. 502, vorletzter Absatz. Darin wird als conclusion gegeben: that the mean distance between the centres of contiguous molecules is less than the hundred-millionth and greater than the two thousand-millionth of a centimetre.

Das ist (d = Durchmeßer, wenn wir annehmen, daß die Moleküle dicht gepackt sind): $2.10^{-9}$cm $< d < 10^{-8}$cm oder $\frac{1}{100}\mu\mu < d < \frac{1}{10}\mu\mu$ Die Größe der Kathodenpartikelchen nehme ich 10mal so klein, da ihre Maße ungefähr 1000mal so /2/ klein sein soll wie die der ponderabln Moleküle. Ist also $\delta$ der Durchmeßer des Kathodenpartikelchens, so wird \begin{equation*} \frac{1}{500} < \delta < \frac{1}{500}\mu\mu. \end{equation*} Das ist die Angabe in meiner Note. Ein $\mu$ war mir von der Redaction gestrichen. Ich meinte aber $\mu\mu$ und muß dies nach meinem Gewährsmann Thomson u. Tait aufrecht halten.

Die Popular Lectures haben wir hier leider weder in der Bibliothek noch im Privatbesitz. Sollte dort wirklich 2$\mu\mu$ angegeben sein?! Dann wären die Moleküle ja beinahe mit bloßen Auge zu sehn. Die landläufige Ansicht, glaube ich, ist für d ca. 1 Ångström = $\frac{1}{10}\mu\mu$. Ich würde dementsprechend zu setzen haben $\delta = \frac{1}{100}\mu\mu$ und erwarten /3/ \begin{equation*} \lambda > \frac{1}{100}\mu\mu. \end{equation*} Ich habe die Untersuchung weitergeführt und die Haga-Wind-schen Beobachtungen jetzt viel genauer discutirt; die Schlüße, die ich damals aus der Beugung an der Halbebene zog, sind in der That sehr bedenklich. Jetzt habe ich für $\lambda$ bekommen \begin{equation*} \textrm{ca. } \lambda = 0,1\mu\mu \end{equation*} Im Übrigen reichen die Beobachtungen zu quantitativen Schlüßen noch nicht aus.

Auf der Naturforscher Ges.[ellschaft] werden Wind u. ich ein Duett über den Gegenstand singen. Wenn Sie sich an der Discussion beteiligen wollen, wäre es sehr schön.

Ich vermute, daß Sie übersehen haben, dass ich einen Unterschied zwischen "d" und "$\delta$" mache und daß die Kelvin'schen Zahlen schon mit 10 dividirt sind, damit sie $\delta$ bedeuten.

/4/ Die Nachricht von Keck's Tode war mir ganz neu. Übernehmen Sie doch die Mechanik! Das wäre für Hannover ausgezeichnet u. für Sie, denke ich, ganz anregend. Klein würde ev. auch kommen, wenn Sie ihn berufen.*

Von der Berufung von F. Kötter als Mechaniker nach Charlottenburg Abth. II haben Sie doch gehört?! Nachdem Müller-Breslau dieses veranlasst hat, dürfen sich Ihre u. meine Collegen auch nicht mehr gegen den theoretischen Mechaniker sträuben.

Nach Paris komme ich nicht, da ich vorläufig nicht vom Hause fort kann. Bringen Sie doch nach Aachen die Zeeman-Photogr. mit! Sie treffen Lorentz u. Voigt hier, die sich ja speciell damit beschäftigt haben.

Ich bin vorläufig mit Collegen u. Studenten ganz gut ausgekommen.

Immer Ihr
A. Sommerfeld.

/5/ Schönen Dank für Ihre Arbeit über die empirischen Formeln. Hierzu ein paar Bemerkungen.

$\sigma$ bedeutet wohl die Spannung = \frac{Kraft}{Querschnitt} (nicht Kraft). Man könnte, je nach der Dichtigkeit u. Genauigkeit der Beobachtungen einen Teil des Intervalles 0 ... s bevorzugen (z.B. die kleinen Dehnungen vor den grossen) u. dementsprechend ein Gewicht p einführen, dann würde die Minimumsbedingung //nicht// heißen: \begin{equation*} \frac{1}{2} \int_{-1}^{+1} F(u) - G(u) p du = \textrm{Min. } \cdot \(p + t(u)\) \end{equation*} Nimmt man $p = \sqrt{\frac{1}{1 - u^2}}$ so //folgt// tritt die Fourier'sche Entwicklung an die Stelle der Kugelfunctionen, nimmt man p nur in der Nähe des Nullpunktes von Null verschieden (z.B. /6/ $p = k e^{-k^2 u}$ (bei grossem k), so bekommt man die Taylor'sche Entwickelung. Durch Abänderung von p kann man alle möglichen und unmöglichen Entwickelungen finden. Dies rührt von Tschebyscheff her. (Petersburger Akademie, in den 30er Jahren.)

Die wahre Form des Gesetzes $\varepsilon = f(\sigma)$ dürfte sich aus Beobachtungen von Ewing ergeben, der gezeigt hat, daß die Dehnung von Gußeisen in Verschiebungen der Mikrokrystalle nach den Gleitflächen besteht. Ich habe die Photographien in Cambridge gesehen.

D. O.

*Sonst kann ich Ihnen empfehlen: Cranz-Stuttgart, Heun-Berlin