Aachen 31. X. [1901]
Lieber Runge!
Den Vortrag von Gümbel in Hamburg habe ich gehört; ausserdem habe ich ihn persönlich als einen originellen, wissenschaftlichen Menschen kennen gelernt. Eine ältere Arbeit über Stabschwingungen (mit Rücksicht auf den Schiffbau) in den Mitteilungen der schiffbautechn.[ischen] Gesellschaft ist entschieden bedeutend. Der Gegenstand des Hamburger Vortrages ist auch von solider, gründlicher Beschaffenheit. /2/ Seine Methode ist ganz graphische Integration gewisser sonst nicht lösbarer Diffgl. u. Interpolation zwischen den $\infty$ vielen Integralcurven zum Zwecke der Erfüllung der Grenzbedingungen. Gümbel sollte, was er in der schiffbaut. Gesellschaft im Allgemeinen über seine Methode sagt, bei Ihnen wiederholen; denn dies scheint mir recht eigentlich in die Tendenz Ihrer Ztschr. zu passen.
/3/ Zweifelhaft ist mir nur, ob die Resultate von Gümbel ganz neu sind. Ich sollte meinen bei Weyrauch, auch wohl bei Saalschütz (der transversal belastete Stab) muß sich ähnliches wie bei Gümbel finden. In jedem Falle ist bei Gümbel neu die Betonung u. Herausarbeitung der praktischen Wichtigkeit einer genaueren Berücksichtigung des Zuges, der vermöge der Ausbiegung des Stabes auf die Stützen übertragen /4/ wird. Das Ms. genau zu prüfen, muß ich leider ablehnen, falls Sie es von mir wünschen sollten.*
Alles in Allem kann ich Ihnen nach oberflächlicher Kenntnis des Vortrages und nach genauerer Kenntnis des Mannes entschieden empfehlen, die Katze im Sack zu kaufen. Eine Ablehnung würde ich sehr bedauern.-
Ich hoffe also in 14 Tagen auf Ihren Artikel; das erste Heft kann dann bald flott werden. Wegen meines Vortrages hatte ich auch an Ihre Ztschr. gedacht; ich muß mich aber mit Simon auseinandersetzen, dem ich ihn in Hambg für die Physikal. [Zeitschrift] zur Verfügung gestellt habe.
Herzl. Grüße
Ihr A. Sommerfeld
*Hierzu sowie zur Klarstellung des historischen Sachverhalts empfehle ich Ihnen Prandtl.