München, 17. I. 13.

Leopoldstr. 87.

Lieber Runge!

Ich habe dieser Tage eine Arbeit über das Zeeman-Phänomen verbrochen im Anschluß an Paschen-Black [sic] u. möchte gern von Ihnen erfahren, ob sie neu ist.

Z.B. das enge Sauerstofftriplet 3947. Ich stelle es mir als herrührend von einem "anisotrop gebunden[en]" Elektron vor, das also ohne Magnetfeld nach 3 Axen 1, 2, 3 mit Frequenzen n1, n2, n3 schwingt, die den drei benachbarten Wellenlängen entsprechen. Das einzelne Molekül ist im Dampf wechselnd orientirt, die drei ursprüngl. Schwingungen also unpolarisirt. Im Magnetfeld verschieben und verbreitern sich die Linien, zunächst proportional $H^2$; wenn aber $\frac{e}{m} H \gg \Delta n$ geworden ist, $( \Delta n = | n_1 - n_2 |$ oder $| n_2 - n_3 |$ oder $| n_3 - n_1 | )$ so kommt es auf die ursprüngliche Verschiedenheit nicht mehr an: das bischen verschiedene Bindung ist ohnmächtig gegen das Magnetfeld, die freien Schwingungen orientiren sich nach dem Magnetfeld, die eine in Richtung von H linear, die beiden anderen senkrecht dazu cirkular. Daher normales Triplet mit der bekannten, immer vollkommener werdender Polarisation; aber die Linien behalten eine gewisse Breite von der Grösse $\Delta n$. Also:

[Skizze] Für das Sauerstofftriplet ergiebt sich $H = 20000$ Gauß als /2/ Grenze oberhalb deren der Paschen'sche Effekt einsetzt. Man kann z.B. für das D-Linienpaar (6A° Differenz) nach der entsprechenden Grenze fragen u. findet $H = 170000$ Gauß. Also oberhalb dieser Grenze sind die beiden D-Linien zu einem normalen Triplet verschmolzen! Manche von Paschen gegebene Einzelheiten lassen sich gut hiernach verstehen, einzelnes widerspricht, z.B. ist die Mittelcomponente des Sauerstofftriplets bei starken Feldern schärfer als sie es nach meiner Auffaßung sein sollte; auch ist der Abstand der Seitencomponenten nach meiner Theorie $\frac{e}{m} H$ (von Mitte zu Mitte gemeßen), nach Paschen ca. $2 \frac{e}{m} H$ (von Rand zu Rand gemeßen). Bei einer Na-Linie stimmt aber auch die Grösse der Zerlegung, bei Wasserstoff liegt die Polarisationsanomalie ganz in meinem Sinne.

Ist dies nun neu? Die Sache ist so selbstverständlich, dass man es schwer glauben kann. Und halten Sie die Auffaßung für fruchtbar? Die complicirteren magnetischen Typen, die bei weiter von einander abstehenden Triplets u. Dublets auftreten, fallen natürlich zunächst aus dem Bilde heraus, aber vielleicht lässt sich auch da etwas machen.

Ich danke Ihnen nochmals schön für Ihr geduldiges Zuhören im Juli. Reden Sie doch Hilbert aus, dass er die Thesen der Gasconferenz schon Anfang Februar verschicken will. 1) sind wir bis dahin nicht fertig, 2) vergißt das Publikum dann alles bis Ende April. M.M.n. wäre es völlig Zeit, die Thesen Ende März oder Anfang April zu verschicken.

Mit einem schönen Gruß an Frau u. Tochter
Ihr A. Sommerfeld