München, den 3. Oktober 1916.
Sehr geehrter Herr College!
Es ist sehr schade, dass Sie nicht kommen können. Von den staatsrechtlichen Schwierigkeiten, die Ihre Freizügigkeit einschränken, wusste ich nichts. Wenn Sie vielleicht im November sich für einige Tage freimachen können und wollen, verspreche ich mir viel von einer Aussprache.
Vorläufig möchte ich Folgendes zu Ihrer Arbeit bemerken:
1) Dass sich das $\alpha \alpha'$-Dublett in der M-Serie
wiederfindet, ist ausserordentlich schön. Es tut mir recht leid, dass ich
das übersehen habe. Meine Annalen-Arbeit hätte dadurch in doppelter
Hinsicht gewonnen, erstens weil der Parallelismus zwischen K - L und
L - M Serie dadurch besonders schön hervortritt:
\[
K_{\alpha } - K_{\alpha '} = L_{\beta } - L_{\alpha } \quad ; \quad
L_{\alpha } - L_{\alpha '} = M_{\beta } - M_{\alpha }
\]
sodann, weil ich dann vor einer verfehlten Bezeichnung bewahrt geblieben
wäre. Ich habe nämlich den zweiten Term von L\alpha, L\beta mit
N bezeichnet. Nach Ihrem Befunde muss er natürlich M heissen.
Infolgedessen scheint sich folgende Term-Bezeichnung darzubieten:
\hspace*{0.4cm}$\underbrace{\alpha \beta } \qquad
\underbrace{\gamma \delta} \qquad
\underbrace{\xi \vartheta} \qquad \underbrace{\varepsilon \eta}$
$L - M \quad L - N \quad L - O \quad L - l$
$\downarrow \qquad \quad \swarrow \qquad
\swarrow \qquad \hspace*{0.4cm} \swarrow \quad \hspace*{0.2cm}
\searrow $
resp.\ L' \hspace*{3cm} an Siegbahn anschliessend.
2) Die Beziehung \beta4 + \beta5 = \alpha1 + \gamma1,
ist mir noch recht problematisch. Insbesondere weiss ich nicht, woher Sie die
Werte für /2/ Ce nehmen, wofür \beta5 mir nicht bekannt
scheint. Ich möchte von dieser Beziehung vermuten, dass sie nur bei
den hohen Atomgewichten gilt, wo \beta4 (mein v) die
Rolle von $\beta'$ spielt, des wasserstoff-ähnlichen Begleiters von
\beta, aber nicht genau, sondern mit merklichem Gang, vgl. meine
Arbeit. In diesem Sinne erklären Sie auch, soviel ich verstanden habe,
diese Beziehung unter Vernachlässigung des Unterschiedes von
1/42 und 1/52. Bei den niederen
Atomgewichten überschneidet aber v die Linie \beta und wird daher
diese Erklärung hinfällig.
3) Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass Sie in dem Glauben an
die Ganzzahligkeit der L-Serie und an meine Feinstrukturen zu weit
gegangen sind. Der zweite Term von L\alpha ist tatsächlich nicht
1/32, sondern 1/2,782; auch das Dublett
$\alpha \alpha '$ wird nur recht roh durch die Wasserstoff-Formel
dargestellt.
4) Mir scheinen alle Bahnen ausser L und K in die
Elektronenwolke hineinzuragen (vgl. den Schluß meiner Arbeit). Eine
rationelle Darstellung der M, N, O, l und \Lambda Terme würde daher
specieller auf das Modell eingehen, nach Art meiner Erklärung der Differenz
zwischen Absorptionskanten und Term. Damit dürften sich auch die
Abweichungen vom Combinationsprincip erklären.
5) Ihre Spekulationen über die \gamma-Strahlen sind mir sehr
interessant; doch habe ich darüber kein auf eigene Überlegungen gestütztes
Urteil. Ihre Erklärung einzelner \gamma-Linien als K\alpha-Linien
von Pb und Bi ist mir sympathischer als Epstein's Versuch (Ann. d. Phys.
50 p. 839).
Mit hochachtungsvollem Gruß
A. Sommerfeld.