Tübingen. 16. VI.1922.
Gartenstrasse 43.
Herrn Geh. Hofrat
Prof. Dr. A. Sommerfeld. München, Leopoldstrasse 87.
Sehr geehrter Herr Kollege,
vorgestern hat uns auf unsere Bitte hin Kollege
Kratzer auf der Reise von Günzburg nach Münster hier
aufgesucht, und wir haben uns nach besten Kräften bemüht, ihn doch
noch für T.[übingen] zu gewinnen. Er hat
Paschen persönlich aufgesucht, und dieser war
anscheinend durchaus nett und höflich mit ihm. Er hat ihm
versichert, dass er an und für sich nicht das Mindeste gegen ihn habe;
aber er wolle nun einmal Lande nach Tübingen ziehen,
und wenn K. annehme, so durchkreuze er diesen Wunsch, worauf er, P.,
in der bereits angegebenen Weise reagieren werde.
Nun haben wir vom Ministerium die Mitteilung erhalten, dass eine
Berufung L.'s gar nicht in Frage komme; wenn K. ablehne, werde die
Liste mit der Aufforderung zurückkommen, über
Schottkys Gesundheitszustand weitere Erkundigungen
einzuholen. (NB. wie Ihnen wohl bekannt ist, Sch.
hinter L. auf der Liste). Wir haben uns,
nachdem K. über seine Verhandlungen mit P. berichtet hatte,
telephonisch diese Absicht des Ministeriums offiziell bestätigen
lassen: K. weiss darüber Bescheid; P. ist vom Dekan
(Thierfelder) in Kenntnis gesetzt worden. Ich habe
noch nicht erfahren, wie er die Sache aufgenommen, ob er insbesondere
seinen Widerstand gegen Kr. jetzt aufgegeben oder -
was bei seinem fast pathologischen Eigensinn das Wahrscheinlichere ist
- vorläufig verstärkt und mit neuen, seinen bisherigen Argumenten
kontradiktorisch widersprechenden Gründen gerechtfertigt hat. Das kann
auch hier ausser Betracht bleiben, denn meine Anfrage betrifft nur
rationale Grössen, insbesondere Sie selber.
Zunächst aber noch einiges über K. selber. Er hat uns einen ganz
ausgezeichneten Eindruck hinterlassen und unseren Wunsch, ihn für T.
zu gewinnen erheblich verstärkt! Auch sein eigener
Entschluss abzulehnen, ist wieder ins Wanken gekommen, seit er
erfahren hat, dass /2/ er vom physikalischen Kolloquium gar nicht
ausgeschlossen werden kann, weil ein solches hier nie existiert hat,
so dass er im Gegenteil ein solches einzurichten freie Hand und
unseren dreifachen mathematischen Segen dazu hat; ferner, dass eine
Teilnahme an P.'s wissenschaftlichen Arbeiten auch fur Füchtbauer
nicht möglich und für andere meist nur temporär, je nach dem Grade der
augenblicklich mehr oder weniger chronischen Verkrachtheit mit dem
Herrn und Meister vorhanden war.
Das schwerste Bedenken Kratzer's scheint uns darin zu
bestehen, dass er nicht Ihrem ausdrücklichen Rate, abzulehnen,
entgegen handeln möchte. Und das ist der Grund, weshalb ich mich -
übrigens ohne jegliches Vorwissen K.'s der im Gegenteil von diesem
meinem Schritt keine Ahnung hat - direkt an Sie wende. Ich kenne die
Gründe Ihres Rates im einzelnen nicht. Von einer wissenschaftlichen
Mitarbeit an P.'s Arbeiten kann, wie bereits erwähnt, auch im
günstigsten Falle nur sehr beschränkt die Rede sein; mir war die
Bitterkeit sehr interessant, mit der Brill von all'
den Schwierigkeiten sprach, die er in seiner Amtszeit mit P. infolge
der ständig wiederkehrenden Konflikte zwischen P. und dessen
Mitarbeitern gehabt hat; seine Meinung ging dahin, dass es gänzlich
gleichgültig sei, ob K. mit Willen oder gegen den Willen P.'s
hierherkomme. Es frage sich in beiden Fällen, ob er den
Mut habe, in so unerquickliche Verhältnisse einzutreten.
Gegen einen solchen Entschluss spricht K.'s Jugend; sie ist auch für
mich das schwerste Bedenken; ich weiss nicht, ob man einem jungen Mann
zuraten darf, sich von vornherein sicheren Konflikten auszusetzen. Nur
ist das Lebensalter keine Garantie dafür dass der betreffende den
etwaigen Konflikten wirklich gewachsen ist. Ich glaube z.B., dass
der nächste Kandidat nach K., Schottky, imstande wäre,
einen Konflikt mit P. derart auf die Spitze zu treiben, dass er sich
selber etwas dabei vergäbe und damit den Rückhalt bei der Fakultät
verscherzte, eine Gefahr, /3/ der Menschen von starkem
Selbstbewusstsein sehr ausgesetzt sind, und zu diesen soll
Sch. nach Fbr's Angabe gehören.
Dagegen hat Kr. eine so natürliche und feine
Bescheidenheit, neben einem klaren und ausgesprochenen Willen und
einer wohltuenden Sicherheit, dass er geradezu der Mann
ist, der einen Modus vivendi mit P. herstellen könnte. Vor allem hat
P. durch sein Vorgehen gegen K. diesem den stärksten Bundesgenossen
verschafft, den K. sich nur wünschen kann. Nämlich die allgemeine
Teilnahme aller Instanzen: Fakultät, Senat und Ministerium.
Alle sind der einmütigen Ansicht, dass man sich das
Vorgehen P.'s unter keinen Umständen gefallen lassen darf, und wenn K.
ablehnt, wird P. recht unliebsame Dinge zu hören bekommen. Nimmt K.
dagegen an, so hat er eine so starke Stellung innerhalb des
Lehrkörpers, dass P., sowie die jetzige Erregung abgeklungen sein
wird, schon aus Gründen der Klugheit einzulenken suchen wird.
Soweit das Bild, das sich uns augenblicklich bietet. K., der gestern
nach Stuttgart ins Ministerium gefahren war, sagte mir beim Abschied,
er werde auf keinen Fall annehmen, ohne Sie nochmals um Ihre Ansicht
zu fragen. Ich bat ihn, auch noch keine definitive Absage zu erteilen,
ehe wir ihm nicht mitgeteilt haben, wie sich P. zu der Mitteilung des
Ministeriums gestellt hat.
Meine Bitte, die ich Ihnen in vollem Einverständnis mit
Maurer und Brill vortrage, geht auf
eine "Revision der Prinzipien", nach denen Sie
Kr. abgeraten haben, nach Tüb. zu gehen.
Vorausgesetzt natürlich, dass meine Mitteilungen Ihnen die Sachlage
anders zeigen, als Sie bisher angenommen hatten. Wenn Sie auch K.
wahrscheinlich nicht zuraten können, so können Sie ihm
doch vielleicht den Entschluss erleichtern; wenn er es hier auf die
Dauer doch nicht aushält, so wird er zum Räumen des Kampfplatzes bei
seiner Tüchtigkeit sicher bald genug die ehrenvolle Gelegenheit eines
Rufes erhalten; indessen scheint es uns, dass /4/ er befürchte, sich
diese Gelegenheit zu verscherzen, wenn er Ihren Rat jetzt in den Wind
schlägt. Steckt tatsächlich nichts anderes dahinter, als die
jugendliche Ehrfurcht vor der Verbindlichkeit eines von einem
verehrten Lehrer eingeholten Rates oder gar die Furcht vor eine
Exkommunizierung im Falle der Nichtbefolgung, so wäre es schade, wenn
an einer solchen Befürchtung die Gewinnung K.'s für T. scheitern
sollte.
P. selber ist - auch von K. persönlich - darüber orientiert, dass
Sie ihm abgeraten haben, nach T. zu gehen. Einer Misdeutung in dem
Sinne, dass Sie ihm gegen seinen ausdrücklichen Wunsch einen Ihrer
Schüler auf die Nase hätten setzen geholfen, sind Sie also bestimmt
nicht ausgesetzt. Wir armen Sündenbocke von Mathematikern
aber haben in diesen Tagen so viel schlechtes, hintenrum, wie auch
vorneherum, über uns zu hören bekommen, dass es uns auf ein bischen
mehr oder weniger nicht ankommt; der Gerechte hat nun einmal viel zu
leiden.
Verzeihen Sie bitte diese Inanspruchnahme ihrer Zeit. Die Freude über
Ihren Jünger so Gutes zu hören, wird Sie hoffentlich etwas dafür
entschädigen, und wenn er herkommt, so werden wir verantwortlichen
Redakteure jedenfalls alles tun, was irgend in unseren Kräften steht,
um ihn zu fördern und ihm das Leben hier angenehm zu machen.
Mit freundschaftlichen Grüssen
Ihr ganz ergebener
Gerhard Hessenberg