Aachen, 13. V. 05

Lieber College!

Ich wollte Ihnen schon längst wegen der Röntgenstrahlen schreiben. Ich bin jetzt natürlich mit Ihrer Arbeit völlig einverstanden. Mein Hinweis auf die Notwendigkeit der Integration der Abraham'schen Strahlungsformel war also überflüssig. Wie ich dazu kam, auf Grund der integrirten Formel eine längere Impulsbreite zu vermuten, ist mir schleierhaft. Es ist ganz klar, daß ich mit dieser Vermutung im Unrecht war.

Ich hatte begonnen, aus meinen Formeln eine in's Einzelne gehende Behandlung der Energie der Röntgenstrahlung mir aufzuschreiben. Ich habe die Sache aber aufgegeben und zwar aus zwei Gründen: 1) Komme ich für "langsame Verzögerung" genau /2/ zu der von Abraham und Ihnen benutzten Formel; alle weiteren Terme, die sich noch ergeben, sind durchaus zu vernachlässigen. Dabei ist die Verzögerung solange als langsam zu behandeln, als der Verzögerungsweg größer ist als der Durchmeßer des Elektrons. Die schnellen Verzögerungen haben also gar kein physikalisches Intereße mehr. Für plötzliche Verzögerungen komme ich auf die Formeln von Hertz. Das Einzige, was ich neu hinzuzufügen hätte, wäre die Construktion der Energiecurve zwischen "plötzlicher" und "langsamer Verzögerung". Diese ist aber ziemlich mühsam und lohnt sich wenig. Ich denke also, Sie dispensiren mich von der von Ihnen gewünschten genauen Theorie der Röntgenenergie. 2) kann ich diesen theoretischen Formeln überhaupt kein /3/ Vertrauen entgegenbringen, weil sie eine Abhängigkeit von der Richtung der Ausstrahlung enthalten, die sich im Experimente ganz und gar nicht bewährt. Ich habe solche qualitativen Experimente mit Hilfe meines tüchtigen Assistenten selbst gemacht. Es ist so gut wie gar keine Abhängigkeit der Intensität der Röntgenwirkung von dem Richtungswinkel zwischen Röntgenstrahl und auffallendem Kathodenstrahl vorhanden, was Ihnen fraglos bekannt ist. Die Theorie verlangt dagegen eine Abhängigkeit von dem folgenden Charakter: [Skizze] Man muß hieraus schließen, daß das Elektron nicht geradlinig gebremst wird, sondern einen Zickzackweg beschreibt, indem sein Feld an die Felder der ruhenden Elektronen im Körper anstösst. Im /4/ Mittel des Zickzackweges kann sich die Abhängigkeit von der Richtung dann herausheben. Damit wird aber auch die Brauchbarkeit der Formel für die Gesamtenergie, die Abraham durch Integration über die Kugelfläche ableitet und die geradlinige Verzögerung voraussetzt, illusorisch.- Oder soll man aus der Unstimmigkeit mit der Richtung schließen, dass unsere Vorstellung von der Natur der Röntgenstrahlen noch nicht stimmt? Ich könnte mich schwer dazu entschließen, weil doch sonst alles dabei so folgerichtig und selbstverständlich ist.-

Ganz wesentlich wird die Untersuchung des Unterschiedes zwischen harten und weichen Röntgenstrahlen sein, wie sie erfreulicher Weise H.[err] Seitz begonnen hat. Ich habe früher gemeint, was wohl allgemeine Ansicht ist: Harte Strahlen = Röntgeneffekt von schnellen Kathodenstr. = schmalen Impulsen, Weiche Strahlen = Röntgeneffekt /5/ von langsamen Kathodenstr. = breiteren Impulsen. Demgegenüber sage ich mir jetzt: Es ist garnicht zu sehen, weshalb schnelle Elektronen auf kürzerem Wege zur Ruhe kommen sollen, als langsame. Freilich ist das Feld des schnellen Elektrons etwas breiter (elliptisch mehr abgeplattet) als das kugelförmigere des langsameren Elektrons. Doch ist dieser Unterschied sehr gering und erst in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit beträchtlich, die praktisch für Kathodenstr. nicht in Betracht kommt. Somit komme ich heute dazu, eher zu vermuten: Harte Strahlen = Röntgeneffekt von großer Energie, weiche Strahlen = Röntgeneffekt von geringer Energie. Die größere Absorptionsfähigkeit der weichen Strahlen müßte dann nur eine scheinbare sein und durch die geringere absolute Energie bedingt werden. Indeßen ist es mir sehr zweifelhaft, ob diese An/6/sicht mit den beobachteten Absorptionsverhältnißen übereinstimmt. Daß über die Beugung der harten und weichen Strahlen endlich Klarheit geschafft wird, ist sehr dankenswert. Hier scheint noch alles unsicher. Die Originale von Haga und Wind sahen allerdings sehr überzeugend aus. Eine fraglose Schwierigkeit liegt aber hier in den dicken Bleirändern.

Es ist eigentlich eine Schmach, daß man 10 Jahre nach der Röntgen'schen Entdeckung immer noch nicht weiß, was in den Röntgenstr. eigentl. los ist. Ihre Energiemeßung wird zu den sichersten und wertvollsten Kenntnißen über Röntgenstrahlen gehören.

Mit besten Grüßen
Ihr A. Sommerfeld.