Berlin d. 21. Mai 98

Sehr geehrter Herr Professor!

Empfangen Sie zunächst meinen Dank für das Interesse, das Sie meinen Arbeiten gewidmet haben sowie für Ihre wertvollen Ratschläge. Um meine Ansichten zu begründen möchte ich den Gedankengang darlegen der mich zu der Arbeit über die bei Schwingungsproblemen auftretenden Differentialgleichungen führte. Ich hatte bei der Ausarbeitung meiner Dissertation den Mangel einer Systematik auf diesem Gebiete sehr lästig empfunden. Ich hatte mich mit umständlichen Rechnungen plagen müssen, ohne die wirklich vollständige Lösung des Problems zu finden. Ich habe die damals angewandten Integrationsmethoden auch nur als provisorische angesehen. Meine neue Arbeit versucht nur den Ansatz einer Systematik zu geben und mir sowie Anderen die Übersicht auf diesem Gebiete zu erleichtern. Daß ich hierbei im wesentlichen das Richtige getroffen habe, dafür garantirt mir der Erfolg, mit dem ich neuerdings, auf den dort gegebenen Resultaten fußend, das Problem des stabförmigen Leiters in Angriff genommen habe. Es ist mir gelungen, die sämmtlichen Oberschwingungen zu berechnen, sowie die zugehörigen logarithmischen [?] und die Verteilung der Kraft im Raume. Die Schwingungszahlen ergeben sich in erster Annäherung als harmonisch; die Decremente nehmen ab mit wachsender Ordnungszahl. Auch die Abhängigkeit von der Dicke des Stabes ist in den Formeln enthalten. Welches nun wirklich der Schwingungszustand um einen Hertz'schen Erreger ist, darüber sagt die Theorie nichts aus. Sie sagt nur welche Schwingungen möglich sind, und, falls nur die Grundschwingung vorkommt, so ergiebt sie eine ganz bestimmte experimentell verifizierbare Schwingungsintensität an jedem Puncte des Raumes. Neuerdings behaupten nun Mazotto und Lamotte, die Oberschwingungen beobachtet zu haben. Diese Resultate sind jedoch zum größten Teile fehlerhaft, da sie die Oberschwingungen gerade /2/ an solchen Stellen beobachten, wo, der Theorie zufolge, Knotenlinien sein müssen. Daher ist es notwendig, daß ich möglichst bald meine Theorie in Wiedemanns Annalen publiziere, zumal außerdem im nächsten Semester die experimentelle Prüfung von einer anderen Arbeit in Angriff genommen werden soll. Ich hoffe, in diesem Semester mit der Ausarbeitung fertig zu werden, und etwa im October die Publikation im Wiedemann erwarten zu können. Allerdings nimmt dieses meine Zeit vorläufig in Anspruch, und schon aus diesem äußerlichen Grunde ist es mir nicht möglich, eine vollständige Umarbeitung der mathematischen Arbeit jetzt vorzunehmen. Andererseits aber scheinen mir auch sachliche Gründe gegen die Umarbeitung in der von Ihnen angedeuteten Richtung zu sprechen. Ich glaube nicht, daß die Mehrzahl der Mathematiker gerade dem Problem der Theorie der electrischen Schwingungen Interesse schenkt. Ich habe mich wenigstens darüber nie zu beklagen gehabt und freue mich umsomehr, daß Sie dem Gegenstande Beachtung widmen. Aber das Interesse an den in meiner Arbeit dargelegten Gegenständen scheint mir mit dieser einen Anwendung keineswegs erschöpft zu sein. Man muß bedenken, daß in den Differentialgleichungen der longitudinalen Schwingungen gleichzeitig die ganze mathematische Physik der scalaren Zustandsgrößen (Wärmeleitung, Diffusion etc.) steckt. Wenn Sie diese betreffenden Entwickelungen für zwecklos halten, so verwerfen Sie damit auch die Arbeiten von Mathieu, Heine und vielen Anderen. Gerade die Functionen des elliptischen Cylinders habe ich darum mit herein genommen, weil sie bei weitem die bekanntesten sind und ich glaubte, daß die Mathematiker, wenn sie bekannte Gleichungen zu sehen bekommen, weniger abgeschreckt werden. Allerdings ist die Nebeneinanderstellung der 4 Functionen etwas umständlich; aber ich bin davon überzeugt, daß, wenn ich die betreffenden Entwickelungen unterdrückte, sie bald von Anderen publiciert /3/ werden würden, und, da ich nun einmal die Rechnung durchgeführt habe, kann ich mich nicht dazu entschließen, sie zu unterdrücken. Wohl aber bin ich bereit, die physikalische Bedeutung des Resultats am Schlusse mehr hervorzuheben, und insbesondere die Anwendung auf die Electrodynamik.

Was nun die anderen Rechnungen betrifft, so bin ich bereit, die Entwickelungen des zweiten Abschnittes, die partiellen Diffgl. longitudinaler und transversaler Wellen betreffend, Ihrem Rat gemäß zu gestalten; ferner würde sich allerdings eine mehr physikalische Einführung der Stetigkeitsbedingungen empfehlen. Was das Princip der Reihenentwickelung nach Lösungen der partiellen Diffgl. betrifft, so will ich durchaus nicht behaupten, daß die Sache nicht sehr verbesserungsfähig ist. Es bildet eine Analogie zu der auf Fourier zurückgehenden Reihenentwickelung willkürlicher Functionen, die wohl in der Poincaré'schen Arbeit das Maximum der Vollkommenheit erreicht hat. Ich glaube indessen, daß mir eine wesentliche Verbesserung nicht gelingen wird, es wäre die Aufgabe eines zweiten Dirichlet, die Grenzen seiner Gültigkeit genau festzulegen. Daß ich die Grenzbedingungen, und damit die Perioden, willkürlich lasse, ist im Wesen der Sache begründet. Bei freier Ausstrahlung gehen die erzwungenen Schwingungen stetig in die Eigenschwingungen über, wie es die Erscheinungen der multiplen Resonanz zeigen. Auch würden beispielsweise bei einem nicht vollkommen leitenden Ellipsoid andere Grenzbedingungen gelten, ohne daß darum meine Entwickelungen hinfällig würden, während bei dem Rayleigh'schen Princip ganz bestimmte Grenzbedingungen vorausgesetzt sind.

Es wäre allerdings besser, wenn das divergenten Wellen entsprechende Integral sogleich eingeführt würde. Es ließe sich dieses erreichen, wenn man das Princip zuerst auf die Wellenzüge anwendet, die von einem Brennpunct ausgehen. /4/ Es würde dieses einer Methode entsprechen, die, wie ich neuerdings gefunden habe, von F. E. Neumann (Crelle 37) auf das Potential des Rotationsellipsoids angewandt wurde und zur Darstellung der Kugelfunction 2ter Art durch ein bestimmtes Integral führt. Aber bei dieser Anordnung würde die Beziehung zur Laplace'schen Transformation fortfallen, die gerade in Hinsicht auf die Poincaré'schen Untersuchungen von Interesse ist, und die einer Entwickelung ebener Wellenzüge entspricht. Bei dieser spielt das divergenten Wellen entsprechende Integral allerdings keine besondere Rolle. Übrigens werden auch die Formeln für das im endlichen Endliche Integral bei der physikalischen Anwendung benutzt.

Es sind also im Wesentlichen 3 Änderungen, die ich vornehmen möchte; die Definition long. und transv. Wellen, die Einführung der Stetigkeitsbedingungen auf Grund physikalischer Erwägungen, und der Hinweis auf die physikalische Nutzanwendung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Güte hätten, mir mitzuteilen, ob die Arbeit alsdann aufgenommen werden würde und, wenn dieses der Fall sein sollte, ob ich sie wieder an Sie, oder an Herrn Geheimrat Klein schicken soll. Ich hoffe, die erwähnten Änderungen bis Mitte Juni fertigzustellen; sehr lieb wäre es mir, wenn die Publication im Herbst bereits möglich wäre, da ich mich dann in der physikalischen Arbeit darauf beziehen könnte.

Indem ich Ihnen nochmals für Ihre Bemühungen bestens danke, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener
Dr. Max Abraham

Berlin NW
Altonaerstr. 30