Utrecht, 12 Dec. '02

Sehr geehrter Herr College,

Besten Dank für Ihr letztes Schreiben. Bei näherer Betrachtung meines eigenen Ms. muss ich Sie eigentlich um Entschuldigung bitten Ihnen so was zugemuthet zu haben; es ist fürchterlich geschmiert und leider versäumte ich noch dazu Ihnen die Curven beizulegen. Ich werde versuchen seiner Zeit /2/ zwei Correcturabzüge zu erhalten. Insbesondere bemerke ich

1) Der Hauptvector L verdient sicher einen Namen; leider hat er blos all zu viele Taufen erlebt. In dem holländ. Original nenne ich ihn Impulskoppel, weil die alte Poinsot'sche Benennung mir noch gar nicht so übel erscheint. Wir haben gesprächsweise schon mal Impulsmoment gebraucht, welches ich glaube ich brauchen werde, obwohl etwas farblos. Ihr "Impulsvector" ist sehr schön solange man nicht gewöhnliche Impulsvectoren (Leitintegrale von Kraftvectoren) mit hinein bekommt, wie das bei eventueller späterer Betrachtung von Collisionen /3/ innerhalb der Kreiselschwärme unvermeidlich ist; das gäbe dann Verwirrung.

2) Es freut mich, dass [Skizze] auch bei Ihnen den Vorzug verdient hat.

3) Ihre Interpretirung der Regelgleichung wird eingeschaltet werden.

4) Die Dissipationsfrage werde ich versuchen noch klarer 'rauszuschälen. Die "unendlich langsamen" Processe sind ja auch in der Thermodynamik ein nothwendiges Übel. Wenn man ein Gas comprimirt giebt es am Kolbeninnern "Windströmung" d.h. Kin. Energie; bei einem reibungslosen Gase gäbe es keine Dissipation derselben und sie würde daher berücksichtigt werden müssen.

/4/ Neuerdings bin ich der Stabilitätsfrage etwas näher getreten; schade dass die Behandlung so umständlich wird. Steht in der Klein'schen Arbeit "sleeping top" noch Vieles was nicht in Ihrem Buch zu finden ist. Leider konnte ich "American Bulletin" 1896 hier nicht erhalten, resp. war das Citat so bibliographisch vieldeutig, da es in Amaerica diverse Bulletins zu geben scheint.

Was die Bemerkung letzte Alinea p. 323 betrifft so könnte man daraus entnehmen dass die Bahncurve des schwachen labilen Kreisels stets eine Rosette bleibt, die immer wieder durch den Nordpol geht.- Wird nicht falls $\frac{A P}{N^2}$ gegen $\infty$ convergirt (indem /5/ man sich etwa g beliebig zunehmend denkt) die Bahncurve sich immer mehr gegen den Südpol concentriren und zu guter letzt nurmehr unendlich wenig von ihm abweichen? Nach Analogie des Pendels scheint mir das wahrscheinlich, wenigstens wenn die Änderung von g wenigstens zum Theil "adiabatisch" (in meinem Sinne) erfolgt.

Es freut mich sehr dass ich mich seiner Zeit meiner Versuche wegen in Ihr vortreffliches Buch vertiefen musste, da ich nun in der Lage bin ein einigermaassen /6/ modernes Colleg über den starren Körper zu lesen, und es thut mir nur Leid dass ich bei Ausarbeitung der übrigen Vorlesungen nicht bereits über die vollständige Encyklopedie verfügen kann, von der die meisten Kapitel wohl in ähnlichem Geiste gehalten sein werden.

Ausser dem links- und rechts-System ist zwischen uns noch ein Vorzeichen-Unterschied indem Sie die $+z$-Axe nach oben, entgegen der Richtung der Schwere rechnen, ich dagegen sie mit der positiven Richtung des Feldvectors identificire.

/7/ Ihre Arbeit über die Bremsentheorie habe ich mit vielem Interesse gelesen. Wie schon des öfteren scheinen die Westinghouse-Yankees auch hier eine richtige practische Nase gehabt zu haben indem sie den Bremsdruck zuerst heftig, dann abnehmend automatisch wirken liessen.-

Die Anwendung der Kreiseltheorie auf magnetische Körper soll erst etwas später erfolgen; deswegen habe ich die Sache etwas allgemeiner gehalten. Bei weichem Eisen dürften die Kreisel sich allerdings vom Kugelkreisel /8/ wenig unterscheiden. Übrigens wird es wohl möglich sein einen unsymmetrischen Kreisel der vom Kugelkreisel nur sehr wenig abweicht, vernünftig zu behandeln; wir haben ja etwas ähnliches bei der Abweichung der Erde vom genauen Sphäroid. Indessen scheint die Periode der Polhöhenvariation, welche aus dem Differiren der Trägheitsmomente A und B hergeleitet wird, doch noch recht unsicher zu sein!

Mit freundlichstem Grusse
Ihr ergebenster
H. du Bois