Berlin, 17. 2. 1901.

Sehr geehrter Herr Professor!

Ihre freundliche Antwort auf meinen letzten Brief hat mich in hohem Maaße interessirt. Diese Mittheilungen sind mir um so wohlthuender, je mehr ich mit den abstracten Bestrebungen der Berliner Mathematiker die Fühlung verliere. Die unselige Sucht nach allgemeinen Quadraturen scheint mir immer mehr dazu zu führen, thatsächlich wichtige Probleme liegen zu lassen, und die Zeit an unfruchtbaren formalen Bestrebungen zu vergeuden.

Sie haben sich durch Ihre intensive Beschäftigung mit Mechanik und theoretischer Physik schon seit Jahren concreteren Zielen zugewendet und dankbarere Aufgaben /2/ in Angriff genommen und mit Erfolg durchgeführt. Ihre Lösung des Kreiselproblems mit Berücksichtigung der Stützreibung interessirt mich im Augenblick um so mehr, als ich während der Redaction meiner Arbeit über das d'Alembert'sche Princ.[ip] noch einmal veranlaßt wurde, über die Reibung bei kinetischen Problemen etwas eingehender nachzudenken. Da ich aber damit noch nicht zum Abschluß gekommen bin, so habe ich das betreffende Kapitel vorläufig ganz weggelassen, und beabsichtige diese allgemeinen Betrachtungen gesondert zu publiciren, sobald sie mir genügend ausgebildet erscheinen. Sie wissen, in welcher Richtung die Schwierigkeiten liegen. Zum Theil hat schon Painlevé darauf hingewiesen, aber bis jetzt noch nichts gethan, um sie zu überwinden. Gestützte Punkte sind technisch unzulässig, da sie bei endlichen Kräften unendlichen /3/ Auflagedruck bedingen. Die der Praxis entsprechende Annahme von Stützflächen führt bei Vorraussetzung der Starrheit meistens zur statischen Unbestimmtheit. Es bleibt also nichts übrig, als die kleinen Deformationen des Materials mit in die Rechnung zu nehmen, wenn man sich den wirklichen Verhältnissen - wie sie bei Maschinen vorkommen - überhaupt nähern will. Hier beginnt aber ein sehr sprödes Problem. Diese Überlegung hat natürlich keinen Bezug auf den Kreisel, da hier die wirkenden Kräfte im Vergleich zum Widerstand des Materials klein bleiben. Jedenfalls bin ich sehr gespannt darauf, wie Sie die Sache angegriffen haben.

Ihr freundliches Anerbieten, mir die Fahnenabzüge zum 3. Heft zur Ansicht gelegentlich zusenden zu wollen, nehme ich mit dem größten Danke entgegen!

In der Hoffnung auf gesundes Wiedersehen am Rhein, bleibe ich mit bestem Gruß

Ihr sehr ergebener
K. Heun.