München Sept. 25 1909

Hochverehrter Freund u. College!

Ihr lieber Brief hat mir eine Ueberraschung gebracht, aber eine sehr erfreuliche. Denn unter allen Umständen enthält er den Beweis wirklich freundschaftlicher Gesinnung u. diese bei Ihnen voraussetzen zu dürfen, darauf habe ich vom ersten Beginn unserer persönlichen Beziehungen den größten Wert gelegt. /2/ Ich bin Ihnen deshalb von Herzen dankbar, dass Sie mir durch Ihren lieben Brief Veranlassung geben ein etwa entstehendes Missverständnis zu vernichten, ehe es weiteren Schaden angerichtet hat. Ich darf Sie wirklich versichern, daß ich mich keinen Augenblick durch Sie gekränkt gefühlt habe. Ich will nicht leugnen, daß ich am Ende des Sommersemesters kurze Zeit hindurch so etwas wie eine Enttäuschung erlebt zu haben vermeinte. Aber niemals habe ich daran gedacht Sie damit in /3/ Verbindung zu bringen oder gar an Ihrer freundlichen Gesinnung zu zweifeln. Ich darf Sie weiter versichern, daß die kleine Verstimmung längst gewichen ist u. nur das Bedauern übrigblieb, daß Sie überhaupt etwas davon gemerkt haben. Nun habe ich nur die eine Bitte: nehmen Sie freundlichst an, daß Sie an mir keine Verstimmung bemerkt haben, die ja auch wirklich nicht gegen Sie gerichtet gewesen ist.

Ich hätte Sie morgen - heute ist Prof. Bauschinger aus Straßburg bei mir - sicherlich aufgesucht, kann aber nicht abkommen, da ich Montag /4/ mit meiner Frau in meine Heimath reise, wo ich etwa 14 Tage bleiben will. Wenn ich dann zurückkomme, hoffe ich den alten Freund in bestem Wohl[?] und heiterer Stimmung recht bald wiederzusehen.

Mit herzlichem Gruß, auch Empfehlungen an die Frau

Ihr stets ergebener
H. Seeliger